Aufruf: Gründung eines Nachkommen-Verbandes

Gerne teilen wir an dieser Stelle den Aufruf von Ines Eichmüller und Frank Nonnenmacher:

Eine NS-Opfergruppe, die sich nie organisiert hat

Aufruf zur Gründung eines Verbandes der Nachkommen von sozialrassistisch Verfolgten

von Frank Nonnenmacher

Für die Nazis war Ines Eichmüllers Großvater ein »Asozialer«. Auf Grund seines unangepassten Lebensstils kam er ohne jedes rechtsförmige Verfahren ins KZ Dachau. Mein Onkel Ernst, der als oft arbeitsloser Wanderarbeiter straffällig geworden war, wurde nach vollständiger Verbüßung seiner letzten Haftstrafe von der Kripo gefasst und ins KZ Flossenbürg verschleppt. Er überlebte knapp ein Strafkommando im Steinbruch des KZ. Für die Nazis war er ein typischer Fall von »Berufsverbrecher«. Sie hatten die irre Idee, wiederholt straffällig gewordenen Menschen hätten »kriminelle Gene«, weshalb sie – nach vollständiger Verbüßung ihrer letzten Strafhaft – zur Herstellung einer kriminalitätsfreien Gesellschaft unbegrenzt in den KZ weggesperrt, gedemütigt, gequält und ermordet wurden. Ernst überlebte das Strafkommando im Steinbruch des KZs nur knapp (vgl. Frank Nonnenmacher: DU hattest es besser als ICH).

Unseres Erachtens muss man die bis heute üblichen Bezeichnungen »Berufsverbrecher« und »Asoziale« ablehnen. Sie sprechen den Betroffenen die Würde ab – auch wenn sie in Anführungszeichen gesetzt werden. Wir setzen uns dafür ein, in Zukunft von »sozialrassistisch Verfolgten« zu sprechen.

Fast alle Opfergruppen haben nach 1945 Verbände gegründet und für ihre Anerkennung gekämpft – manche waren damit erst beschämend spät erfolgreich, so z. B. fand die Aufhebung des §175 erst 1994 statt.

2018 habe ich mit jüngeren Wissenschaftler*innen zusammen (Julia Hörath, Sylvia Köchl, Andreas Kranebitter und Dagmar Lieske) einen öffentlichen Appell an den Bundestag gerichtet, die sozialrassistisch Verfolgten des Nazisystems endlich als solche offiziell anzuerkennen. Der Appell fand breite Unterstützung, und am 13. Februar 2020 beschloss der Bundestag einstimmig, die von den Nationalsozialisten als »Asoziale« oder »Berufsverbrecher« Verfolgten anzuerkennen.

Das ist gut so und ein wichtiger erinnerungskultureller Fortschritt. Gut ist auch, dass der Beschluss die zu ziehenden Konsequenzen nennt, indem er z. B. die Erstellung einer anspruchsvollen Wanderausstellung zu den Schicksalen der sozialrassistisch Verfolgten fordert. Diese ist inzwischen in Arbeit und auch das ist gut so.

Schlecht ist aber, dass die Anerkennung so spät kommt, dass niemand mehr in den Genuss der möglichen Entschädigung kommt. Zynisch könnte man sagen, dass die Bundesrepublik sich durch das lange Zuwarten viel Geld gespart hat.

Schlecht ist auch, dass bis jetzt die im Bundestagsbeschluss geforderten Finanzmittel zu der seit Jahrzehnten ausgebliebenen Erforschung von Biografien dieser Verfolgtengruppe nicht zur Verfügung gestellt wurden. Auch für die geforderte spezifische Erforschung der Rolle der Verfolgungsinstanzen gibt es bis heute kein Budget. Und es sind schon wieder Jahre vergangen.

Ines Eichmüller und ich, sowie weitere Nachkommen der von den Nazis sozialrassistisch Verfolgten sind bei dieser Bilanz der Auffassung, dass es nicht länger am Engagement einzelner hängen kann, ob die Opfergruppe der sozialrassistisch Verfolgten integraler Teil unserer Erinnerungskultur werden. Ein Verband der Nachkommen, den wir im Januar 2023 gründen wollen, kann hier nicht nur bei der jeweils eigenen familiengeschichtlichen Aufarbeitung eine wichtige Rolle spielen, er kann auch nach außen wirken, z. B. als Kritiker halbherzig ausgeführter Bundestagsbeschlüsse, als Stimme, die im nationalen Gedenken zwar keine Hauptrolle spielen aber dennoch präsent sein sollte, als ansprechbare Institution in der historisch-politischen Bildung und als Kooperationspartner für andere Verfolgtenverbände.

Leider gibt es nirgends eine Namensliste der Angehörigen und Nachkommen der sozialrassistisch Verfolgten. Deshalb sind wir darauf angewiesen, dass Menschen, die an der Gründung eines solchen Verbandes interessiert sind, sich melden, und zwar bei . Wir werden die Interessenten über die Details informieren und die Öffentlichkeit dann über die Gründung informieren.


Frank Nonnenmacher ist emeritierter Professor für Politische Bildung an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Unter dem Titel »Du hattest es besser als ich« veröffentlichte er 2014 eine Doppelbiografie über seinen Vater und seinen Onkel. Sein Onkel Ernst Nonnenmacher war von den Nationalsozialisten als »Berufsverbrecher« verfolgt und in ein KZ verschleppt worden.

Darüber hinaus initiierte Frank Nonnenmacher den erfolgreichen Appell an den Deutschen Bundestag zur Anerkennung derjenigen Menschen, die als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgt worden waren.

Gemeinsam mit Ines Eichmüller (Nürnberg/ Fürth) wird er am 21./22. Januar 2023 einen »Verband der Angehörigen der ignorierten Opfer des Nationalsozialismus« gründen.

Abkürzung für Konzentrations­lager

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Die Kriminalpolizei (»Kri­po«), ein regulärer Zweig der Polizeiarbeit für die Verfolgung von Straftaten, ist im Nationalsozialismus neben anderen Aufgaben für die Kontrolle und Verfolgung »Gemeinschaftsfremder« zuständig.  Als »Berufsverbrecher« oder »Asoziale« bezeichnete Personen werden von ihr planmäßig überwacht und zeitlich unbeschränkt in Haft genommen.
Die Beurteilung, was als »asoziales Verhalten« gilt, bleibt den Polizisten überlassen – kleinste Verhaltensauffälligkeiten können zur Inhaftierung führen.

Nach 1945 gibt es verschiedene Ent­schädigungsregelungen für Verfolgte des Nationalsozialismus. In Westdeutschland gilt das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) über Geld- bzw. Rentenleistungen. In der DDR erhalten Überlebende Geld und Sachleistungen von den »Ausschüssen der Opfer des Faschismus«. In Österreich regelt das Opferfürsorgerecht mögliche Ansprüche. In allen drei Staaten bleiben als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgte über Jahrzehnte von Ent­schädigungen ausgeschlossen.

Als »Berufs­verbrecher« werden seit den 1920er Jahren Personen bezeichnet, die Straftaten begehen, um daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits im November 1933 gehen die Nationalsozialisten entschieden mit einer vorbeugenden Polizeihaft gegen diese Personengruppe vor. Als »Berufs­verbrecher« gilt, wer in fünf Jahren drei Mal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde. Die Kriminalpolizei kann damit Betroffene ohne Verdacht in »Vorbeugungshaft« nehmen.

Menschen werden als »A­soziale« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.