1945–2020: Verleugnung

Jahrzehntelang verwehrt die deutsche Gesellschaft den »Gemeinschaftsfremden« Anerkennung und einen Platz in der Erinnerung. Erst im Februar 2020 erkennt der Deutsche Bundestag nach Jahrzehnten der Verleugnung die als »Berufsverbrecher« und »Asoziale« Bezeichneten als Opfer des Nationalsozialismus an. Warum werden sie erst so spät anerkannt? Wer setzt sich für sie ein? Und welche Schritte waren notwendig, um das Leid der Betroffenen endlich anzuerkennen?

Selbstorganisation

»Die Vergessenen« (1946)

1946 gründen als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgte in München einen Verein. Sie sind Überlebende des KZ Dachau und nennen sich Die Vergessenen. Die Enttäuschung über die fehlende Solidarität anderer ehemaliger Häftlinge drücken sie im Namen ihres Vereins deutlich aus. Von Mai bis Juli 1946 veröffentlichen Die Vergessenen drei Monatsschriften unter dem Titel Wahrheit und Recht! »Schwarz-Grün«. Internes Informationsblatt der Konzentrationäre Deutschlands der Schwarzen und Grünen. Darin rufen sie ihre ehemaligen Mithäftlinge auf, sich zu organisieren und für den »guten Ruf der Schwarzen und Grünen« einzusetzen. Ihr Engagement wird jedoch jäh beendet: Die US-Militärregierung verbietet den Verein bereits nach wenigen Monaten. Grund dafür ist die weiterhin bestehende Annahme, dass sogenannte »Asoziale« und »Berufsverbrecher« zu Recht verfolgt worden seien.

Titelblatt der Zeitschrift »Wahrheit und Recht!«. Ein Transkript des Dokuments findet sich im nächsten Abschnitt.
Titelblatt der Zeitschrift »Wahrheit und Recht!«.
Quelle: Arolsen Archives

WAHRHEIT und RECHT!
„Schwarz-Grün“

Internes Informationsblatt der Konzentrationäre Deutschlands,
der Schwarzen und Grünen

Nr. 1

München, im Mai 1946

Zum Geleit!
Konzentrationäre! „Schwarze“! „Grüne“!

Vor mir liegt eine Broschüre eines Buchenwalders, dir mir sehr zu denken gibt. Sie zwingt uns, endlich das lange Schweigen zu brechen.

Jede Zeile derselben ist eine Anklage gegen uns, gegen die Schwarzen und Grünen, ist eine Verleumdung erster Qualität, die ihrer entsprechenden Antwort bedarf.

Wir rufen Euch daher auf zum Abwehrkampf gegen diese gemeinen Demagogen und Drahtzieher übelster Art! – –

Wir haben es nicht verdient, so geschmäht zu werden von solchen, die besser ihren eigenen Stall ausmisten würden und nicht den Namen als „politische Häftlinge“ länger tragen.

Aber da man scheinbar dort mit Blindheit geschlagen ist, so werden wir die Sonde ansetzen und ihnen die Augen öffnen über ihre unrühmliche Tätigkeit in den verschiedenen K.Z.-Lagern! –

In dem guten Glauben an den anständigen Charakter und die Konsequenz dieser *Politischen* haben wir bisher geschwiegen; geschwiegen, weil wir die schmutzige Wäsche nicht vor dem Forum der breiten Öffentlichkeit waschen wollten, weil wir das Vertrauen und das Ansehen der Konzentrationäre nicht noch mehr in Misskredit bringen wollten. man hat unser Schweigen scheinbar falsch verstanden und es nicht zu würdigen gewusst. Wir nehmen daher den gebotenen Kampf mit allen Waffen auf, die Folgen werden unsere Verleumder zu tragen haben, denn ihr Konto wird dadurch nur unangenehm belastet.

Hass und Bosheit schleudert man uns mit einem Fanatismus entgegen und wir werden ihnen hemmungslos antworten; denn wenn wir diesen Schlag auch ohne eine Erwiderung hinnehmen, sind wir es nicht wert, noch länger den Namen eines Konzentrationärs zu tragen.

Wenn wir auch „Asos“ und „BVer“ sind, so haben wir Ehre und Charakter genug, um einzusehen, dass diese Brunnenvergiftung ihre Sühne heischt! – –

Aus diesem Grund rufen wir Euch auf, mit uns um unser Recht und Ansehen zu kämpfen, allen Hetzern zum Trotz!

Schliesst Euch zusammen im Kampf um Wahrheit und Recht, zu einem anständigen und ehrlichen Kampf! Arbeitet mit uns, gegen die, die würdig wären, neben den angeklagten SS-Wachmannschaften auf der Anklagebank zu sitzen.

Unsere Ziele sind frei von jeglicher Politik und Konfession und dienen nur der Richtigstellung von Unwahrheit und Verleumdung, die man über uns verbreitet, dienen nur dazu, um unser Ansehen zu wahren.

In diesem Sinne, liebe Kameraden, lassen wir die alte Kameradschaft wieder frisch erstehen und nehmen den uns gebotenen Streit gegen die Piraten und Freibeuter rücksichtslos auf!

Gg. Tauber,

K. Jochheim-Armin,

„Schwarz“ und „Grün“

Bereits wenige Wochen nach der Befreiung der letzten Konzentrationslager organisieren sich ehemalige KZ-Häftlinge. Sie fordern die Anerkennung und Entschädigung des ihnen angetanen Unrechts. In mehreren deutschen Städten richten Überlebende, die als »politische« Häftlinge im Lager waren, Beratungsstellen für NS-Verfolgte ein. Hier werden Haftbestätigungen ausgestellt, um Zugang zu ersten Hilfeleistungen zu erhalten. Doch die Beratungsstellen verweigern einigen Verfolgten die Hilfe. Dazu zählen jene, die die SS im Lager mit dem schwarzen Winkel als »Asoziale« und mit dem grünen Winkel als »Berufsverbrecher« gekennzeichnet hatte. Die Stigmatisierung als »asozial« und »kriminell« haftet ihnen seitens ihrer ehemaligen Mithäftlinge nach 1945 weiter an.

Einer der beiden Gründer des Vereins, der sich auch als Schicksalsgemeinschaft der Vergessenen bezeichnet, ist Georg Tauber. Tauber, der selbst als »Asozialer« im KZ Dachau inhaftiert war, hält das Grauen der Konzentrationslager und die gesellschaftliche Ausgrenzung nach 1945 in mindestens 60 Zeichnungen und Aquarellen für die Nachwelt fest. Seinen Ärger und seine Enttäuschung über das Verhalten der »politischen« Häftlinge verarbeitet er in dem Aquarell »Die Last« von 1946. Denn die ehemaligen Mithäftlinge unterstützen ihn und andere als »asozial« und »kriminell« Verfolgte gegen die breite gesellschaftliche Ablehnung nicht.

Aquarell »Die Last« von Georg Tauber
Quelle: Privatbesitz

Initiativen und Verbände

Einsatz gegen das Vergessen

Die als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten verfügen nach 1945 über keine Interessensvertretung. Das hat maßgeblich zwei Gründe: Ihre einzige Gemeinsamkeit besteht in den Zuschreibungen durch die nationalsozialistische Gesellschaft. Lediglich der 1987 als Selbstorganisation gegründete Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. bietet eine Möglichkeit des Austausches. Denn Zwangssterilisation hatte auch viele als »Asoziale« Verfolgte betroffen: Mit der angeblichen Diagnose des »angeborenen Schwachsinns« waren zahlreiche Unfruchtbarmachungen angeordnet worden. Der Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. setzt sich für die Rehabilitation aller Zwangssterilisierten ein. Diese beschließt der Deutsche Bundestag 2007.

Wenn auch nicht als Selbstorganisationen ehemalig Verfolgter, so gründen sich im Laufe der Zeit weitere Initiativen, Arbeitskreise und Verbände. Sie setzen sich auf verschiedenen Wegen für die Anerkennung der als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten ein.

So organisiert die Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark seit 1997 regelmäßige Grabungen sowie Bau- und Begegnungscamps auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers für Mädchen und junge Frauen. Zudem setzt sie sich für die Errichtung eines Gedenkortes ein. Seit 2006 finden auf dem Areal des ehemaligen Lagers Gedenkfeiern und Rundgänge statt. 2009 weihte die Initiative darüber hinaus einen selbstfinanzierten Gedenkstein ein.

2007 gründet sich der Arbeitskreis Marginalisierte – damals wie heute. Er entsteht aus der Erwerbslosenbewegung und hat seinen Ausgangspunkt im Protest gegen das Arbeitslosengeld II (Hartz IV). In zahlreichen Veranstaltungen sowie zwei Sammelbänden setzt sich der Arbeitskreis mit der NS-Verfolgung vermeintlich »Asozialer« und den Kontinuitäten (und Brüche) der Ausgrenzung nach 1945 auseinander. In den 2010er Jahren gehört der Arbeitskreis zu den Mitinitiator/-innen für den Gedenk- und Ausstellungsort auf dem Gelände des ehemaligen Arbeitshauses Rummelsburg.

Einen ganz anderen Ansatz wählt der Zentralrat der Asozialen in Deutschland (ZaiD). Dahinter verbirgt sich ein 2015 gegründetes Kunstprojekt, mit dem sich eine Gruppe um den Initiatior Tucké Royale für die Entschädigung der als »asozial« Verfolgten einsetzt und auf Kontinuitäten der Ausgrenzung aufmerksam macht. Unter dem Slogan »Kein Mensch ist asozial« veranstaltet der ZaiD drei Jahre lang Kunstaktionen im öffentlichen Raum in Hamburg und Berlin.

Seit einigen Jahren werden zudem vereinzelt Stolpersteine für NS-Opfer verlegt, die von den Nationalsozialisten als »Asoziale« oder »Berufsverbrecher« bezeichnet worden waren. Doch stellen sich bei der Erinnerungsform der Stolpersteine grundsätzliche Fragen: Werden die Betroffene durch die Benennung der nationalsozialistischen Verfolgungskategorien erneut stigmatisiert? An welchen Orten oder Adressen können Stolpersteine für diejenigen verlegt werden, die wohnungs- oder obdachlos waren?

Stolpersteine auf dem Alexanderplatz in Berlin-Mitte. Ein Transkript der Innschriften findet sich im nächsten Abschnitt.
Stolpersteine auf dem Alexanderplatz in Berlin: Im April 2016 werden in Erinnerung an Menschen, die von den Nationalsozialisten als »asozial« und »arbeits­scheu­« verfolgt wurden, fünf Stolpersteine verlegt.
Foto: privat

Menschen ohne
festen Wohnsitz wurden von den Nazis als
asozial und arbeitsscheu
stigmatisiert und kriminalisiert
verfolgt und ermordet

Otto Bülow
Jg. 1913
seit 1931 mehrmals verhaftet
zuletzt 23.1.1941
»Vorbeugehaft«
Sachsenhausen
ermordet 12.2.1943

Joachim Ebel
Jg. 1919
eingewiesen Arbeitshaus Rummelsburg
verhaftet Nov. 1942
Sachsenhausen
ermordet 4.2.1943

Paul Kobelt
Jg. 1892
seit 1935 mehrmals Arbeitshaus Rummelsburg
»Vorbeugehaft« 9.2.1942
Sachsenhausen
Flucht in den Tod
25.3.1942

Willi Kochannek
Jg. 1907
eingewiesen Arbeitshaus Rummelsburg
verhaftet Aug. 1942
Sachsenhausen
ermordet 20.8.1942

Karl Otto Mielke
Jg. 1909
verhaftet 19.4.1939
Gefängnis Charlottenburg
»Vorbeugehaft« 11.8.1939
Sachsenhausen
ermordet 24.1.1940

Die Auseinandersetzung mit der Verfolgung von Personen, die von den Nationalsozialisten als »Berufsverbrecher« bezeichnet wurden, fand bis in jüngste Zeit nicht statt. Keine Initiative oder Organisation nahm sich ihres Leides oder der ausbleibenden Anerkennung und Entschädigung nach 1945 an. Erst der Initiativkreis um Frank Nonnenmacher setzt sich energisch für die Anerkennung der als »Berufsverbrecher« Verfolgten ein.


Frühe Forschung

Der Blick auf die bisher nicht beachteten Opfer des Nationalsozialismus

Erst vier Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges wird in Westdeutschland das bis dahin ignorierte Leid der als »asozial« Verfolgten öffentlich aufgegriffen. Im Bundestag fordert die Partei Die Grünen mehrfach die Öffnung des Bundesentschädigungsgesetzes für die »vergessenen Opfer«. Zeitgleich setzt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik ein. Detlev Peukert und Gisela Bock gelten dabei als Pionier/-innen: 1982 veröffentlicht Peukert unter dem Titel Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde eine wegweisende Monografie über den »Sozialrassismus« der Nationalsozialisten. Vier Jahre später legt Bock die erste umfassende Studie über Zwangsterilisation im Nationalsozialismus vor.

Parallel zu den wissenschaftlichen Arbeiten bilden sich in den 1980er Jahren regionalgeschichtliche Initiativen an verschiedenen Orten. In Hamburg gründet sich 1983 die Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regime. In Ausstellungen und Publikationen macht sie auf die Verfolgung der »ignorierten Opfer« des Nationalsozialismus aufmerksam – darunter auch die als vermeintlich »Asoziale« Verfolgten. 1989 erwirkt diese Initiative schließlich die Gründung einer Landesstiftung: Erst jetzt können Betroffene, die keinen offiziellen Anspruch auf Entschädigungen haben, Beihilfen vom Land Hamburg erhalten.

Das Hauptaugenmerk der Forschung liegt zunächst auf der Rolle der nationalsozialistischen Wohlfahrt. 1995 publiziert Wolfgang Ayaß als Erster einen Gesamtüberblick über die Verfolgung »Asozialer« und die Rolle der kommunalen Fürsorge. Aus einer anderen Richtung kommen die Vertreter/-innen der Folgegeneration: Sie verlagern den Schwerpunkt von der Rolle der Wohlfahrt auf die der Polizei. So beispielsweise Patrick Wagner in seinem 1996 erschienenen Werk Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Erst jetzt beginnt die Auseinandersetzung mit den als »Berufsverbrechern« Verfolgten, die bis dahin in der Wissenschaft kaum beachtet wurden.

Ayaß, Wolfgang (1995): »Asoziale« im Nationalsozialismus. Klett-Cotta, Stuttgart.

Bock, Gisela (1986): Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. Westdeutscher Verlag, Opladen.

Peukert, Detlev (1982): Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Bund-Verlag, Frankfurt/Main.

Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes, Hrsg. (1988): Verachtet – verfolgt – vernichtet. Zu den »vergessenen« Opfern des NS-Regimes. VSA-Verlag, Hamburg.

Wagner, Patrick (1996): Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Christians Verlag, Hamburg.


Mit einer Petition zum Bundestagsbeschluss (2018)

Eine Initiative zur Anerkennung der vermeintlich »Asozialen« und »Berufsverbrechern« als Opfer des Nationalsozialismus

Im April 2018 wendet sich eine Gruppe von fünf Wissenschaftler/-innen aus Deutschland und Österreich mit einer Petition an den Deutschen Bundestag. Die zentrale Forderung ist, jene Menschen als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen, die als »Asoziale« oder »Berufsverbrecher« bezeichnet und verfolgt wurden. Die Autor/-innen der Petition machen dabei eines deutlich: Die lange Zeit der Nichtanerkennung hat bereits dazu geführt, dass nur noch wenige Überlebende mögliche Entschädigungszahlungen überhaupt in Anspruch nehmen könnten. Daher sollen zusätzliche Mittel für Forschung, Ausstellungen und politische Bildung bereitgestellt werden.

Den Forderungen des Initiativkreises schließen sich fast 22.000 Unterzeichner/-innen an. Die Petition führt zum gewünschten Erfolg: Der Deutsche Bundestag befasst sich mit dem Anliegen. Im April 2019 legen sowohl Bündnis 90/Die Grünen als auch die FDP dem Plenum Anträge vor. Etwa ein halbes Jahr später findet eine Expert/-innen-Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien statt. Am 13. Februar 2020 kommen die fünf demokratischen Fraktionen des Bundestags zur Einigung: Sie erkennen die als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten als Opfer des Nationalsozialismus an.

Einer der Initiator/-innen der Petition ist der Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher. Sein Onkel Ernst Nonnenmacher war als vermeintlich »Asozialer« und später als »Berufsverbrecher« verfolgt und in den Konzentrationslagern Flossenbürg und Sachsenhausen inhaftiert. Unter dem Titel Du hattest es besser als ich. Zwei Brüder im 20. Jahrhundert veröffentlicht Frank Nonnenmacher 2014 die Geschichte seines Onkels Ernst und erzählt sie im Zusammenspiel mit der seines Vaters Gustav. Ernst Nonnenmacher verstirbt 1989. Er erlebt die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus nicht mehr.


Bundestagsbeschluss

»Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.«

Am 13. Februar 2020 beschließt der Deutsche Bundestag die Anerkennung der als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten als Opfer des Nationalsozialismus – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dem Antrag der Koalition stimmen neben den damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und SPD auch die Oppositionsfraktionen der FDP, des Bündnis 90/Die Grünen und der Linken zu. Nur die AfD-Fraktion enthält sich in der Abstimmung.

Der beschlossene Antrag enthält den entscheidenden Satz: »Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.« Aus diesem Grund sollen die Menschen, die von den Nationalsozialisten als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« bezeichnet wurden, stärker in das öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Dazu soll eine Wanderausstellung beitragen, zu der auch diese Webseite gehört. Zudem sollen Forschungsarbeiten als auch die Arbeit von Gedenkstätten und Dokumentationszentren finanziell unterstützt werden.

Der Beschluss des Deutschen Bundestages sieht auch vor, dass Überlebende leichter eine finanzielle Entschädigung erhalten können. Bis 2019 hatte die Bundesrepublik nur an 288 als »Asoziale« und 46 als »Berufsverbrecher« Verfolgte eine Entschädigung nach den Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) ausgezahlt.

Insbesondere zwei Aspekte stehen in der Kritik. Zum einen hatten die demokratischen Fraktionen des Bundestages sich im Vorfeld der Anerkennung nicht auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt: Neben der Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD hatten auch Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Die Linke eigene Anträge eingereicht. Vor diesem Vorgehen hatte Frank Nonnenmacher, Mitinitiator des Bundestagsbeschlusses und Angehöriger eines Verfolgten, schon im Vorfeld gewarnt: Parteipolitik würde so über das eigentliche Anliegen gestellt. Kritik übt auch Julia Hörath, Historikerin und ebenfalls Initiatorin des Beschlusses: Sie gibt zu bedenken, dass der Beschluss den Rahmen für Entschädigungsleistungen kaum verändert habe. Diese können weiterhin nur nach den sogenannten Härterichtlinien des Kriegsfolgengesetzes (AKG) beantragt werden. Angemessen wäre hingegen die Neuauflage des bis 1969 angewandten Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Das BEG hatte die seinerzeit Anspruchsberechtigten als »Verfolgte« des Nationalsozialismus anerkannt. Beim AKG gelten Betroffene lediglich als »Opfer« des Zweiten Weltkriegs.

Sitzung des Deutschen Bundestags
Foto: DBT / Thomas Trutschel / photothek
Podcast über die Bundestagsdebatte am 13. Februar 2020

Kurzer Jingle

»Das ist heute eine wichtige Stunde für den deutschen Bundestag. Das ergibt sich daraus, weil wir Opfern der nationalsozialistischen Willkürherrschaft eine Stimme, ein Gesicht und eine Anerkennung geben. Menschen, deren Schicksal zu lange im Schatten gestanden ist. Opfer der Nationalsozialisten, die wir nicht nur lange übersehen haben, sondern die dieser Staat auch nicht sehen wollte.«

Das sind die Worte des CSU-Politikers Volker Ullrich im Plenum des Deutschen Bundestages am 13. Februar 2020. Erst 75 Jahre nach Kriegsende beschließt das deutsche Parlament die Anerkennung der im Nationalsozialismus als sogenannte »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten. Diesem politischen Entschluss gehen Jahrzehnte des Ignorierens und Verdrängens voraus. Nur vereinzelt erhalten Überlebende Entschädigungszahlungen. Die meisten werden nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.

Die Diskussion über die Anerkennung der vermeintlich »Asozialen« und »Berufsverbrecher beschäftigt die Abgeordneten des Deutschen Bundestages fast drei Jahre lang. Dazu die CDU-Abgeordnete Melanie Bernstein:

»Von Beginn der parlamentarischen Diskussion an, in den Arbeitsgruppen, im Ausschuss, in öffentlichen Anhörungen, waren sich alle Fraktionen – mit Ausnahme der AfD – grundsätzlich einig, dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich räume auch gerne ein, dass es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen war, die das Thema zuerst auf unsere politische Agenda gesetzt und mit dem ersten Antrag dazu die konstruktive Diskussion, die wir bis heute führen, angestoßen hat. Wir haben seit dem vergangenen Jahr in verschiedenen Gremien oft und ausführlich über das Thema gesprochen, zuletzt im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am 6. November 2019.«

Die beiden damaligen Regierungsfraktionen der CDU/CSU und SPD einigen sich schließlich auf zentrale Forderungen, die die SPD-Abgeordnete Marianne Schieder so zusammenfasst:

»Unser Antrag ermöglicht die Wanderausstellung, in der wissenschaftliche Forschungsergebnisse, einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden können. Hier kann sehr gut herausgearbeitet werden was die Begriffe »Asozial« oder »Berufsverbrecher« in der Sprache der Nazis bedeuteten, wie beliebig Menschen stigmatisiert, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, gequält und ermordet wurden. Mit einem modularen Konzept soll die Ausstellung durchlaufend erweitert werden können, z.B. durch Rechercheergebnisse von jungen Menschen, die sich mit den Geschichten von Verfolgten aus ihrer Heimat auseinandersetzen – in der Schule oder in der Jugendgruppe. Darüber hinaus sieht der […] Koalitionsantrag unter anderem eine stärkere Kooperation von Gedenkstätten mit Bildungseinrichtungen und lokalen Akteuren vor. Als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgte werden zudem explizit als Leistungsberechtigte in die Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes aufgenommen. Damit wird für alle ersichtlich, dass die Überlebenden einen Anspruch auf finanzielle Leistungen haben.«

Doch neben dem Antrag der Regierungsparteien liegen am 13. Februar 2020 noch drei weitere Anträge vor: Drei Oppositionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und die FDP, stellen jeweils eigene Anträge. Dass die demokratischen Fraktionen sich auf keinen gemeinsamen Antrag geeinigt haben, wird in der Debatte kritisiert:

»Die drei genannten Oppositionsfraktionen waren bereit mit der CDU/CSU und der SPD einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten. Doch das wollten die Koalitionsfraktionen namentlich die Union offenbar nicht. Ich bedauere das ausdrücklich, denn dieses Anliegen taugt einfach nicht zur parteipolitischen Profilierung.«

Dieser Kritik, die hier die Linken-Abgeordnete Petra Pau äußert, schließen sich auch Hartmut Ebbing von der FDP-Fraktion und der Grünen-Politiker Erhard Grundl an:

»Wenn wir demokratischen Fraktionen nicht einmal einen gemeinsamen, interfraktionellen Antrag bei diesem Thema hinbekommen – wann und bei welchem Thema dann? Statt ein Zeichen der Solidarität und des Gemeinsinns im Sinne der Opfer zu setzen, wurden Parteigrenzen insbesondere innerhalb der Großen Koalition scheinbar für wichtiger erachtet. […] Das liebe Kolleginnen und Kollegen – insbesondere von der CDU – hätten wir besser lösen können und auch besser lösen müssen.«

»Seit April 2018 haben wir Grünen für einen interfraktionellen Antrag geworben. Gemeint als klares Zeichen an die Opfer und an ihre Hinterbliebenen, als klares Zeichen gegen Hass und gruppenbezogene Menschenverachtung – damals wie heute. Als klares Zeichen gegen alle, die einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus fordern. Angesichts der Zunahme von Gewalt gegen Andersdenkende, religiöse Minderheiten oder sozial Benachteiligte, wäre das ein starkes, ein wichtiges Zeichen gewesen.«

Große Einigkeit besteht unter den demokratischen Fraktionen dennoch sowohl in der Richtung des Antrags als auch in der Kritik an der AfD. Diese hatte im Vorfeld sowie in der Debatte im Bundestag eine Einzelfallprüfung gefordert. Dies wird in der Debatte von allen Fraktionen entschieden zurückgewiesen.

Am Ende stimmen die Abgeordneten aller demokratischen Fraktionen dem Antrag der Koalitionsparteien zu. Die lange Phase der Nichtanerkennung der als »Berufsverbrecher« und als »Asoziale« Verfolgten findet somit zumindest auf politischer Ebene am 13. Februar 2020 ein Ende.

Abspann, leiser werdend, Übergang zum Jingle:

»Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der AfD Fraktion angenommen.«

Die SS (»Schutzstaffel«) unter der Leitung von Heinrich Himmler versteht sich als elitärer Wehrverband des nationalsozialistischen Staates. Mit der Übernahme und dem Umbau der Polizei durch Himmler wird die SS zum zentralen Terrorinstrument des Regimes. 1934 erhält sie erhält die Kontrolle über sämtliche Konzentrationslager. Das 1939 gebildete Reichssicherheitshauptamt, die Planungszentrale für die Verbrechen im deutsch besetzten Europa, ist ihr zugeordnet.

Die Sturmabteilung ist der auf Adolf Hitler eingeschworene Wehrverband der NSDAP. Die SA schürt Antisemitismus und greift politische Gegner/-innen an. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler dient die SA in Preußen als »Hilfspolizei«, verhaftet und quält Menschen, oft in »wilden« Lagern. 1934 gehören ihr etwa vier Millionen Männer an.  Den Versuch der SA-Führung, aus ihr eine allumfassende Parteimiliz zu formen, beantwortet Hitler mit ihrer Entmachtung.

Menschen werden als »asozial« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.

Abkürzung für Konzentrations­lager

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Als »Euthanasie« (altgriechisch: schöner Tod) bezeichnen die Nationalsozialisten den Massenmord an Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen. Im Rahmen der »Aktion T4« töten Ärzte und Pflegepersonal 1940/41 über 70.000 Patient/-innen aus Heil- und Pflegeanstalten. Nach Protesten der Bevölkerung wird das Programm offiziell abgebrochen, heimlich aber fortgeführt. Insgesamt werden bis 1945 europaweit etwa 300.000 Patient/-innen in Tötungsanstalten, durch Medikamente oder gezieltes Verhungern ermordet.

In der Zeit des Nationalsozialismus sterilisieren Ärzte zwangsweise etwa 400.000 Menschen. Sie sollen keine Kinder bekommen – die Nationalsozialisten gehen davon aus, dass geistige und körperliche Eigenschaften vererbbar seien. Damit gehen sie gegen Menschen vor, die sie als »minderwertig« ansehen. Etwa 5.000 Menschen sterben an den Folgen des medizinischen Eingriffs, andere werden später in Kliniken ermordet, Hundertausende bleiben staatlich organisiert kinderlos.

(grüner Win­kel, schwarzer Win­kel)

In den Konzentrationslagern beraubt die SS die Häftlinge ihrer Namen und vergibt Nummern. Neben der Nummer müssen die Häftlinge unterschiedlich farbige Win­kel an ihrer Kleidung tragen. Die Win­kel verweisen auf den Grund der Haft. Die SS schafft damit auch eine Hierarchie der Gefangenen. Die Farbe des Win­kels hat Einfluss auf die Behandlung im Lager. Personen, die den schwarzen Win­kel tragen, gelten als »asozial«, Menschen mit dem grünen Win­kel als »Berufsverbrecher«.

Die »Volks­gemeinschaft« ist das nationalsozialistische Ideal des Zusammenlebens von deutschen »Volksgenossen«. Wer dazugehört und wer nicht, bestimmen rassistische Kriterien. Die Ausgeschlossenen werden als »Volksschädlinge« herabgewürdigt. Zu ihnen zählen Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, politische Gegner/-innen, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, aber auch »Asoziale« und »Berufsverbrecher«.

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Unter Für­­sorge werden die Hilfe und Sorge für andere Menschen verstanden. Zur öffentlichen Für­sorge zählen neben den Jugend- und Gesundheitsämtern die Wohlfahrtsämter. Sie sollen zum Beispiel Arbeitslose mit Geld unterstützen. Die Nationalsozialisten schließen verschiedene Personengruppen von der Fürsorge aus, weil sie nicht als Teil der »Volksgemeinschaft« angesehen werden. Darunter sind Juden oder Menschen, die als »arbeitsscheu« und »asozial« gelten.

Nach 1945 gibt es verschiedene Ent­schädigungsregelungen für Verfolgte des Nationalsozialismus. In Westdeutschland gilt das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) über Geld- bzw. Rentenleistungen. In der DDR erhalten Überlebende Geld und Sachleistungen von den »Ausschüssen der Opfer des Faschismus«. In Österreich regelt das Opferfürsorgerecht mögliche Ansprüche. In allen drei Staaten bleiben als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgte über Jahrzehnte von Ent­schädigungen ausgeschlossen.

Auf der Grundlage des Bundes­entschädigungsgesetzes (BEG) können Verfolgte des Nationalsozialismus von 1953 bis 1969 in der Bundesrepublik Deutschland finanzielle »Entschädigungen« beantragen. Antragsberechtigt sind Personen, die aus »politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen« verfolgt wurden. Viele Verfolgte sind jedoch davon ausgeschlossen – darunter Homosexuelle, Zwangsarbeiter/-innen, Roma und Sinti, aber auch »Asoziale« und »Berufsverbrecher«.

Als »Berufs­verbrecher« werden seit den 1920er Jahren Personen bezeichnet, die Straftaten begehen, um daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits im November 1933 gehen die Nationalsozialisten entschieden mit einer vorbeugenden Polizeihaft gegen diese Personengruppe vor. Als »Berufs­verbrecher« gilt, wer in fünf Jahren drei Mal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde. Die Kriminalpolizei kann damit Betroffene ohne Verdacht in »Vorbeugungshaft« nehmen.

Menschen werden als »A­soziale« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.

Der Begriff wurde von Behörden bereits vor 1933 verwendet. Die Nationalsozialisten verunglimpfen damit Arbeitslose, denen sie vorwerfen, sich keine Arbeit suchen zu wollen. Diese Personen erhalten keine staatliche Hilfe – stattdessen zwingt die Fürsorge sie zu schwerer Arbeit und sperrt die Polizei sie vielfach in Konzentrationslagern ein. Allein 1938 verhaftet sie mehr als 10.000 Personen. »Arbeitsscheue« gilt den Nationalsozialisten als erblich und als Gefahr für die »Volksgemeinschaft«.

Arbeitshäuser gibt es in Europa seit dem 16. Jahrhundert. Im Deutschen Reich dienen sie als Haftstätten mit Arbeitszwang unter anderem für Personen, denen Landstreicherei, Bettelei, Prostitution oder Obdachlosigkeit vorgeworfen wird. Die Nationalsozialisten sperren ab 1933 zunächst Tausende in Arbeitshäuser. Bald darauf gehen sie verstärkt dazu über, Personengruppen, die sie als »Asoziale« bezeichnen, in Konzentrationslager zu verschleppen.