Fragen an die Familiengeschichte – eine Spurensuche zu meiner Urgroßtante Irmgard Plättner

Unter dem Titel »Als ›Asoziale‹ nach Ravensbrück. Das kurze Leben der Irmgard Plättner« veröffentlicht der Braunschweiger Daniel Haberlah 2021 ein Buch über seine Urgroßtante. Irmgard Plättner war von den Nationalsozialisten als vermeintlich »asozial« verfolgt worden und starb mit 24 Jahren im Konzentrationslager Ravensbrück. In seinem Beitrag berichtet Daniel Haberlah von seiner Spurensuche und dem Umgang seiner Familie.

Portraitfoto von Irmgard Plättner
Portraitfoto von Irmgard Plättner.
Quelle: privat

Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus in meiner Familie ist maßgeblich durch meine Urgroßmutter (1925-2013) geprägt. Sie erzählte viel über diese Zeit – in den Grenzen ihres eigenen Erlebens als Kind und junge Frau aus dem Arbeitermilieu. Eine akademisch-intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat es in ihrem Leben nicht gegeben. Trotzdem hatte sie Zeit ihres Lebens ein großes Interesse an Politik und am Weltgeschehen. Eine ihrer Erzählungen handelte von ihrer Schwägerin Irmgard Plättner (1921-1945). Diese habe »nicht arbeiten wollen« und sei deswegen mehrmals verhaftet und schließlich ins Konzentrationslager gebracht und dort ermordet worden, wie eine Mitgefangene der Familie nach dem Krieg erzählt habe. Der Bruder meiner Urgroßmutter, der Ehemann Irmgard Plättners, habe von ihrer Verhaftung während eines Fronturlaubs erfahren. Er sei daraufhin »zum Amt« gegangen und habe ihre Freilassung verlangt, woraufhin diese ihm nahegelegt hätten, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, weil »so eine Frau eines deutschen Soldaten nicht würdig« sei und die Ehe »Konsequenzen für ihn haben könnte«. Eine Scheidung habe er jedoch abgelehnt.

Auch meine Großmutter und Mutter kannten diese Geschichte. Der Begriff »asozial« wurde dabei nie verwendet. Ich nahm diese Geschichte so hin, als ich sie als Jugendlicher hörte, hatte jedoch gewisse Zweifel an ihr. Nicht, weil ich dachte, dass meine Urgroßmutter gelogen hätte, sondern weil ich davon ausging, dass sie sich schlicht falsch erinnert oder es nicht besser gewusst hätte. Außerdem schien es mir unrealistisch, dass ausgerechnet in meiner Familie ein Opfer des Nationalsozialismus zu finden sein sollte. Es wäre auch falsch anzunehmen, dass diese Geschichte eine herausgehobene Rolle in den Erzählungen meiner Urgroßmutter gehabt hätte. Es war eine von vielen Geschichten, die zeigen sollten, unter welchen schrecklichen Umständen man zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur leben musste. Auch wenn meine Urgroßmutter sich und ihre Familie, soweit ich mich erinnere, nie als »Opfer« des Nationalsozialismus ansah, sind diese Erzählungen natürlich verengt auf das eigene Erleben: Alles, was außerhalb des Mikrokosmos Braunschweig geschah, spielte darin kaum eine Rolle.

Erst in den Jahren nach dem Tod meiner Urgroßmutter dämmerte mir, zu welcher Verfolgtengruppe Irmgard Plättner gehört haben könnte. 2020 begann ich mich intensiver mit ihrem Schicksal zu beschäftigen und konnte viel über meine Urgroßtante, ihr Leben und ihre Verfolgung herausfinden. Die Ergebnisse meiner Recherchen habe ich in einem Buch zusammengetragen. Meine Erfahrungen während meiner Recherchen und nach Veröffentlichung des Buchs mit den Reaktionen anderer Leute sind – und das scheint mir untypisch zu sein – fast ausschließlich positiv. Die meisten Menschen, mit denen ich darüber sprach, waren sehr interessiert. Die wenigsten wussten, dass Menschen als »Asoziale« im Nationalsozialismus verfolgt wurden – geschweige denn, was dies überhaupt bedeutete. Das gipfelte darin, dass eine Person sogar wie selbstverständlich davon ausging, dass Irmgard Plättner Jüdin gewesen sei.

Stolperstein für Irmgard Plättner in Braunschweig
Juni 2021, Braunschweig: Am Werder 3/4 erinnert ein Stolperstein an Irmgard Plättner.
Quelle: privat

Obwohl niemand mehr aus eigenem Erleben aus der Zeit berichten konnte, hat auch meine Familie mich dauerhaft unterstützt. Wenn ich etwas Neues herausgefunden hatte, diskutierte ich häufig mit meinen Eltern und Großeltern. Gemeinsam versuchten wir, Theorien darüber zu entwickeln, was passiert sein könnte. Auch fragten wir uns, wie viel meine Urgroßmutter über ihre Schwägerin wusste. So habe ich beispielsweise herausgefunden, dass Irmgard Plättner ein Fürsorgefall war und im Alter von 16 Jahren Mutter eines Kindes wurde. Alle waren wir uns sicher, dass meine Urgroßmutter das, so sie davon wusste, auf jeden Fall erzählt hätte. Ob mein Urgroßonkel es wusste? Vielleicht. Er soll wortkarger gewesen sein als seine Schwester. Vielleicht verheimlichte Irmgard Plättner es aber auch vor ihm. Das Kind könnte heute noch am Leben sein. Ich habe große Mühen unternommen, es ausfindig zu machen, aber es ist mir nicht gelungen. Die Spur verliert sich in den 1960er Jahren.

Niemand in meiner Familie, mich eingeschlossen, hat einen Zweifel daran, dass meine Urgroßmutter, wenn sie noch leben würde, meine Recherchen vollumfänglich unterstützt und sich sehr für alles interessiert hätte, was ich herausgefunden habe. Ich denke, dass auch ihre Eltern und mein Urgroßonkel es ebenso unterstützt hätten, auch wenn ich sie nie kennengelernt habe. Für sie alle, davon bin ich überzeugt, war Irmgard Plättner keine »Asoziale«, sondern eine von ihnen.

Deswegen denke ich auch, dass ihnen die Anerkennung durch den Bundestag wenig bedeutet hätte, hat sie doch nur bestätigt, was für sie selbstverständlich war. Mehr bedeutet hätte ihnen sicher, dass heute ein Stolperstein an Irmgard Plättner erinnert. Dort, wo sie alle zusammenlebten, am Werder in der Braunschweiger Innenstadt, wo heute durch Kriegszerstörungen und Abrisse nichts mehr so aussieht wie damals. Es ist der erste für einen Menschen aus der Verfolgtengruppe der angeblich »Asozialen« in Braunschweig.


Buchcover »Als ›Asoziale‹ nach Ravensbrück. Das kurze Leben der Irmgard Plättner« von Daniel Haberlah
Quelle: Einert & Krink

Das Buch »Als ›Asoziale‹ nach Ravensbrück. Das kurze Leben der Irmgard Plättner« von Daniel Haberlah ist im Juni 2021 bei Einert & Krink erscheinen.

Menschen werden als »asozial« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Unter Für­­sorge werden die Hilfe und Sorge für andere Menschen verstanden. Zur öffentlichen Für­sorge zählen neben den Jugend- und Gesundheitsämtern die Wohlfahrtsämter. Sie sollen zum Beispiel Arbeitslose mit Geld unterstützen. Die Nationalsozialisten schließen verschiedene Personengruppen von der Fürsorge aus, weil sie nicht als Teil der »Volksgemeinschaft« angesehen werden. Darunter sind Juden oder Menschen, die als »arbeitsscheu« und »asozial« gelten.

Menschen werden als »A­soziale« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.