Rudolf – Der Bettler mit der Mundharmonika

»Wenn ich ihn anzeigen würde, so sagte er, käme er nie mehr auf freien Fuß.«

2022 veröffentlicht Alfons L. Ims ein Buch über das Schicksal seiner Familie während des Nationalsozialismus: »Eine ›asoziale‹ Pfälzer Familie. Wie in der NS-Zeit aus einem Sozialfall moralische Minderwertigkeit gemacht wurde«. Während seiner Recherchen kommt der Autor in Kontakt mit einer weiteren Angehörigen, die Akten über ihren Urgroßvater Rudolf Krieg sichtet. In seinem Beitrag erinnert Alfons L. Ims an das Leben von Rudolf Krieg.

Im Rahmen der Recherchen zu meiner eigenen Familie kam ich in Kontakt mit einer Urenkelin von Rudolf Krieg. Sie hatte sich mit der Geschichte ihres Urgroßvaters beschäftigt und zahlreiche Dokumente aus verschiedenen Akten zusammengetragen. Daraus lässt sich das Leben von Rudolf Krieg – wenn auch lückenhaft – rekonstruieren. Mit diesem Beitrag möchte ich an ihn, eines der verleugneten Opfer des Nationalsozialismus, erinnern.

»Skulpturen gegen das Vergessen« von Stuart N. R. Wolfe in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück
Die »Figuren gegen das Vergessen« des britischen Bildhauers Stuart Wolfe stehen seit 1996 in der ehemaligen Schneider-Werkstatt in der K­Z-Gedenkstätte Ravensbrück. Jede der Skulpturen trägt einen farbigen Win­kel am Revers, der für die jeweilige Häftlingsgruppe steht.
Quelle: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Britta Pawelke

Rudolf Krieg wird am 12. Juli 1914 im hessischen Bad Vilbel geboren. Er ist der jüngste von vier Söhnen, sein Vater ist Tagelöhner. Ansonsten ist über seine Familie kaum etwas bekannt. Die offiziellen Akten bezeichnen seinen Vater als Trinker und seine Großeltern wahlweise als Trinker oder »geistesgestört«. Einer seiner Brüder sei bei der Landespolizei, die anderen seien wegen Bettelei vorbestraft.

Rudolf Kriegs Kindheit und Jugend ist von Krankheit geprägt. In der Schule hat er Schwierigkeiten, wird zweimal nicht versetzt und verlässt sie ohne Abschluss – eine Krankheit fesselt ihn ans Bett. Zweimal beginnt er eine Ausbildung, zum Messingdreher und Gärtner, beide Male muss er diese erneut wegen Krankheit aufgeben. Eineinhalb Jahre verbringt er in der Anstalt Bethel und der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein. Die Ärzt/-innen behandeln ihn dort wegen eines Nervenleidens. Bei seiner Entlassung ist er 19 Jahre alt. Wie Rudolf Krieg diese Zeit erlebt, ist kaum rekonstruierbar. Selten kommt er selbst zu Wort, meist sprechen die Nationalsozialisten über ihn.

1934 erwarten Rudolf Krieg und seine Partnerin Anna Eschert ein gemeinsames Kind. Doch noch während der Schwangerschaft wird Anna Eschert mit Gonorrhoe, einer sexuell übertragbaren Krankheit, ins Krankenhaus eingewiesen. Das Städtische Fürsorgeamt stellt beim Erbgesundheitsgericht einen Antrag auf Sterilisation. Im Februar 1935 wird die Tochter Margot geboren, bereits im Oktober desselben Jahres wird Anna Eschert wegen »angeborenen Schwachsinns« zwangssterilisiert.

Zeitgleich wird Rudolf dreimal wegen Bettelns verhaftet und verurteilt. In einem Gutachten, das der Gerichtsmediziner Ferdinand Wiethold über ihn anfertigt, gibt Rudolf Krieg zu Protokoll, dass er »auf Höfen Mundharmonika gespielt habe, ohne einen Gewerbeschein gehabt zu haben«.

Ohne Genehmigung heiraten Rudolf und Anna im Januar 1936 in Frankfurt. Zwei Tage später beginnt sein Wehrdienst. Das Fehlen der Genehmigung führt dazu, dass das Landgericht in Frankfurt am Main ihre Eheschließung annulliert. Grund dafür ist die Zwangssterilisierung Anna Escherts. Für die »Erschleichung einer verbotenen Eheschließung« wird Rudolf Krieg 1937 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Zwar stellen die Behörden das Verfahren gegen Anna Eschert ein, doch sie verstirbt im Februar 1938 im Alter von nur 28 Jahren in Frankfurt. Die Todesursache ist in den vorliegenden Akten nicht vermerkt. Ihre Tochter Margot ist zu diesem Zeitpunkt erst drei Jahre alt und wächst bei einer Tante auf.

1938 und 1939 verbringt Rudolf Krieg in der Frankfurter Nervenklinik und in der Landesheilanstalt Weilmünster. Wie er dorthin gekommen ist, ist aus den Akten nicht ersichtlich. In Weilmünster werden ihm »haltlose willensschwache, asoziale Psychopathie und angeborener Schwachsinn« attestiert. Die Gutachter gehen hart mit ihm ins Gericht: Sie behaupten, dass Rudolf Krieg, »seine geistigen Schwächen durch ein überlegenes Lächeln und ein selbstbewusstes Auftreten zu verbergen versuche«. Es ist einer der wenigen Punkte, an denen wir etwas über Rudolf Krieg erfahren, das über Be- und Verurteilungen hinausgeht – frei von Wertung ist es jedoch nicht. Auf Basis dieses Gutachtens informiert das Gesundheitsamt Weilburg das Erbgesundheitsamt in Limburg an der Lahn. Es mündet in der Zwangssterilisation von Rudolf Krieg im Februar 1940. Eine Woche nach dem Eingriff wird er entlassen.

Das Gesundheitsamt Frankfurt behält Rudolf Krieg genau im Auge. Im November 1941 meldet es an die Kriminalpolizei, dass sich Rudolf Krieg als Zuhälter betätige. Eine Frau bestätigt dies in ihrer Aussage und beschreibt, wie Rudolf Krieg den Großteil ihrer Einnahmen als Prostituierte einfordere. Sie ist sich der Tragweite ihrer Angaben bewusst, so gibt sie zu Protokoll: »Wenn ich ihn anzeigen würde, so sagte er, käme er nie mehr auf freien Fuß.« Einen Monat später wird Rudolf Krieg in Haft genommen. 1942 verurteilt ihn das Amtsgericht Frankfurt zu einem Jahr Zuchthaus. Sein Strafbeginn soll allerdings bis zum Ende des Krieges warten: Den Nationalsozialisten gelten Vorbestrafte als »wehrunwürdig«. Mit der Verschiebung des Haftantrittes will Reichsjustizminister Otto Thierack den »feigen und ehrlosen Wehrpflichtigen den Anreiz nehmen, sich durch eine Straftat dem Wehrdienst zu entziehen«[1].

Deshalb wird Rudolf Krieg nicht ins Zuchthaus gebracht, sondern aus der Untersuchungshaft direkt ins Gefangenenlager Rodgau-Dieburg. Nach einem Jahr schreibt Rudolf Krieg an seine Mutter. Er erklärt seine Lage (»es ist furchtbar wenn ich noch länger hierbleiben muß«) und bittet seine Mutter sich bei Gericht für ihn einzusetzen. Seine Strafe wird im Mai 1943 für verbüßt erklärt. In Freiheit kommt Rudolf Krieg jedoch nicht. Im Juli 1943 überführt ihn die SS zunächst in das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und anschließend in die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. Die Kategorie, in der er als Häftling geführt wird, lautet »Aso«, kurz für »Asozial«. In Freiheit kommt Rudolf Krieg nicht mehr.

Verfolgungsweg von Rudolf Krieg
Die Nationalsozialisten verschleppen Rudolf Krieg zunächst in verschiedene Zwangseinrichtungen in Hessen und später in drei Konzentrationslager. Die Grafik illustriert seinen Weg.
Quelle: Stiftung Denkmal

Die Geschichte von Rudolf Krieg zeigt, wie wenig von einer Person bleibt, die in die Mühlen der nationalsozialistischen Verfolgung gerät, und wie wenig nötig war, um in diese Mühlen zu rutschen. Musik ohne Gewerbeschein zu spielen, ist heute lediglich eine Ordnungswidrigkeit, eine Eheschließung zweier erwachsener Personen bedarf keiner Erlaubnis mehr, Zuhälterei ist legal, solange diese nicht unter Zwang geschieht. Für diese Taten wurde Rudolf Krieg in Konzentrationslager und schließlich in den Tod geschickt.

An der kurzen Lebensgeschichte von Rudolf Krieg sehen wir, wie eng Gesundheitsämter, Städtische Fürsorge, Erbgesundheitsgerichte und Polizei zusammenarbeiteten. Sie alle bemühten sich nicht um die Unterstützung und Förderung von Rudolf Krieg, sondern um den Schutz der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«.

Der Volksmund sagt: Jeder ist seines Glückes Schmied! Aber kann ein Mensch, dem das Leben so viele Steine in den Weg legte, ohne die nötige Ausbildung und kaum Werkzeug ausstattete, ein guter Handwerker werden und diese Steine aus dem Weg räumen? In einer Gesellschaft mit einer nationalsozialistischen, menschenverachtenden Ideologie, die sich von jeglicher Humanität und Empathie mit Bedürftigen und Schwächeren verabschiedet hat, war das unmöglich.

Dieser Ideologie entsprechend hätte die Tochter von Anna Eschert und Rudolf Krieg, Margot, gar nicht existieren dürfen. Margot hat sieben Kinder zur Welt gebracht und mittlerweile 11 Enkel/-innen und 16 Urenkel/-innen. Das sind 34 Menschen, die leben, weil Margot noch vor der Zwangssterilisation ihrer Eltern geboren wurde. In all diesen Menschen leben Rudolf Krieg und Anna Eschert weiter.

[1] http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch/dokumentation/informationstexte/infokap204.php


 

 

Eine Langfassung des Textes, ebenfalls recherchiert und geschrieben von Alfons L. Ims, steht hier als PDF zum Download bereit. In seinem Text geht der Autor auf zahlreiche Quellen ein, zitiert aus Briefen und Urteilen und zeichnet die Geschichte des Verfolgten Rudolf Krieg nach.

 

In der Zeit des Nationalsozialismus sterilisieren Ärzte zwangsweise etwa 400.000 Menschen. Sie sollen keine Kinder bekommen – die Nationalsozialisten gehen davon aus, dass geistige und körperliche Eigenschaften vererbbar seien. Damit gehen sie gegen Menschen vor, die sie als »minderwertig« ansehen. Etwa 5.000 Menschen sterben an den Folgen des medizinischen Eingriffs, andere werden später in Kliniken ermordet, Hundertausende bleiben staatlich organisiert kinderlos.

Die SS (»Schutzstaffel«) unter der Leitung von Heinrich Himmler versteht sich als elitärer Wehrverband des nationalsozialistischen Staates. Mit der Übernahme und dem Umbau der Polizei durch Himmler wird die SS zum zentralen Terrorinstrument des Regimes. 1934 erhält sie erhält die Kontrolle über sämtliche Konzentrationslager. Das 1939 gebildete Reichssicherheitshauptamt, die Planungszentrale für die Verbrechen im deutsch besetzten Europa, ist ihr zugeordnet.

Erbgesundheitsgerichte entscheiden seit 1934 darüber, wem die Möglichkeit genommen werden soll, Kinder zu bekommen. Das Vorschlagsrecht für diese Zwangssterilisationen liegt bei Ärzt/-innen, Fürsorger/-innen und Anstaltsleitungen. Die Gerichte legen dann fest, wer »erbkrank« ist und fällen die Urteile, häufig mit einer Gruppenzugehörigkeit, einer Behinderung oder dem Verhalten der Betroffenen begründet. Deren Rechte missachten die Verfahren. Für fast 400.000 Menschen enden sie mit der Unfruchtbarmachung.

Menschen werden als »asozial« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.

In der Zeit des Nationalsozialismus sterilisieren Ärzte zwangsweise etwa 400.000 Menschen. Sie sollen keine Kinder bekommen – die Nationalsozialisten gehen davon aus, dass geistige und körperliche Eigenschaften vererbbar seien. Damit gehen sie gegen Menschen vor, die sie als »minderwertig« ansehen. Etwa 5.000 Menschen sterben an den Folgen des medizinischen Eingriffs, andere werden später in Kliniken ermordet, Hundertausende bleiben staatlich organisiert kinderlos.

Die »Volks­gemeinschaft« ist das nationalsozialistische Ideal des Zusammenlebens von deutschen »Volksgenossen«. Wer dazugehört und wer nicht, bestimmen rassistische Kriterien. Die Ausgeschlossenen werden als »Volksschädlinge« herabgewürdigt. Zu ihnen zählen Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, politische Gegner/-innen, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, aber auch »Asoziale« und »Berufsverbrecher«.

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Unter Für­­sorge werden die Hilfe und Sorge für andere Menschen verstanden. Zur öffentlichen Für­sorge zählen neben den Jugend- und Gesundheitsämtern die Wohlfahrtsämter. Sie sollen zum Beispiel Arbeitslose mit Geld unterstützen. Die Nationalsozialisten schließen verschiedene Personengruppen von der Fürsorge aus, weil sie nicht als Teil der »Volksgemeinschaft« angesehen werden. Darunter sind Juden oder Menschen, die als »arbeitsscheu« und »asozial« gelten.