Willy Brachmann – Kapo und Retter

Dr. Anna Hájková ist Historikerin und lehrt und arbeitet an der University of Warwick. Seit vielen Jahren setzt sie sich für die Erinnerung und Anerkennung Willy Brachmanns ein. Im Juni 2023 wurde im Hamburger Stadtteil St. Pauli ein Stolperstein für ihn verlegt. In ihrem Text erinnert Anna Hájková an Willy Brachmann als Helfer und Beschützer im Konzentrationslager.

Die Überlebenden des Theresienstädter Familienlager in Auschwitz erinnerten sich neben der Allgegenwärtigkeit von Gewalt und Tod auch an einen Funktionshäftling: Willy Brachmann. Viele beschrieben Willy Brachmann, der einen grünen Winkel trug, als einen hilfsbereiten Mann. Im September 1943 ernannte die SS ihn zum Kapo im Familienlager. Dabei handelte es sich um einen Abschnitt des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, in dem Männer, Frauen und Kinder aus Theresienstadt gemeinsam, das heißt ohne vorherige Selektion inhaftiert waren. Im März 1944 wurde er dort Lagerältester.

Hier brachte Brachmann einer schwangeren Frau Essen und erzählte ihr, wie es war, als seine Ehefrau ihr Baby erwartete. František Schnurmacher, ein junger Bauer aus Südböhmen, sagte noch in den 1980er Jahren, wenn er Brachmann auf der Straße wiederträfe, würde er ihn gleich in seine Datscha einladen. Zudem beschützte Brachmann die geheime kommunistische Widerstandsgruppe im Familienlager. Der Künstlerin Dina Gottliebová brachte er Essen, mit der Zeit entwickelte sich zwischen den beiden eine Beziehung. Gottliebová erzählte, wie das zunächst sexuelle zu einem romantischen Verhältnis wurde: Sie hat Brachmann schätzen- und lieben gelernt und organisierte, dass er von einem Häftlingszahnarzt eine Prothese bekam. Zudem stellte sie Brachmann auch einem 12-jährigen Prager Jungen vor, Míša Grünwald, der sein Läufer wurde.

Foto von Willy Brachmann, aufgenommen im Konzentrationslager Auschwitz
Willy Brachmann wurde im August 1940 in das Konzentrations­lager Auschwitz deportiert.
Foto: The Archive of The State Museum Auschwitz-Birkenau in Oświęci

Im Juli 1944 schloss die SS das Familienlager. Junge und arbeitsfähige Häftlinge sollten nach der Selektion zur Zwangsarbeit verschleppt werden, gebrechliche, ältere und zu junge Häftlinge wurden ermordet. Brachmann schmuggelte Grünwald an den SS-Ärzten vorbei. Dies gelang ihm auch bei der jungen Hamburger Jüdin Anita Landsberger. Er rettete die beiden altruistisch und brachte sich selbst damit in Lebensgefahr. Heute lebt Míša hochbetagt als Frank Grunwald in Indianapolis. Er erinnert stets an den Kapo, der ihm das Leben gerettet hat, und setzt sich dafür ein, dass Brachmann geehrt wird.

Willy Brachmann war 1903 in St. Pauli zur Welt gekommen. Während sein Vater im Ersten Weltkrieg an die Front eingezogen war, wurde Willy Brachmann zu einem der zehntausenden Heranwachsenden, die stahlen, um die hungernden Familienmitglieder zu unterstützen. Seine erste Haftstrafe bekam er im Sommer 1918, die letzte 1946. Brachmann wurde Hausmaler, heiratete und bekam 1927 eine Tochter. Die kleine Familie hatte es schwierig, denn Willy Brachmanns Frau litt an Knochentuberkulose und das Geld war knapp. Willy stahl, damit seine Frau und die Tochter nicht froren und die Ärzterechnungen beglichen werden konnten. Er stahl Heizmittel und was er sonst in den Kellern fand, in die er einbrach – eigentlich Dinge von kleinem Wert.

Mit dem Machtantritt der Nazis 1933 wollte er einen Neuanfang wagen und trat der NSDAP und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) bei. Die Parteimitgliedschaft währte nicht lange, bereits ein Jahr später wurde er ausgeschlossen.

1938 kam Brachmann nach Verbüßung einer weiteren Strafe nicht frei, sondern wurde als »Berufsverbrecher« ins KZ eingeliefert. Die Grundlage hierfür bildete das 1934 in Kraft getretene »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung«, das auf dem sozialrassistischen Nazi-Gedanken einer angeborenen Neigung zur Kriminalität basierte. Brachmann wurde in die Emslandlager eingeliefert, von hierher schickte ihn die SS 1939 in das KZ Sachsenhausen und im August 1940 deportierten ihn die Nazis ins KZ Auschwitz. Hier arbeitete er im Maler- und Straßenbaukommando. Wegen Diebstahls für seine Freunde wurde er zweimal im berüchtigten Bunker (Strafblock) eingesperrt. Er überlebte, aber verlor fast alle seine Zähne.

Brachmann wurde im Herbst 1944 in das Auschwitzer Nebenlager Gleiwitz geschickt, im Januar 1945 kam er mit einem Todesmarsch zum KZ Groß Rosen. Zwei Monate später floh er aus einem Todestransport und schlug sich nach Hamburg durch, wo er sich bis zur Befreiung versteckt hielt. Nach dem Krieg wurde er nochmals wegen Diebstahl verhaftet. In den 1960ern kämpfte Brachmann, dessen Gesundheit in den Konzentrationslagern extrem gelitten hatte und der einen Herzinfarkt bekam, um eine Entschädigung, aber bekam keine: die gab es nicht für »Berufsverbrecher«.

Die SS (»Schutzstaffel«) unter der Leitung von Heinrich Himmler versteht sich als elitärer Wehrverband des nationalsozialistischen Staates. Mit der Übernahme und dem Umbau der Polizei durch Himmler wird die SS zum zentralen Terrorinstrument des Regimes. 1934 erhält sie erhält die Kontrolle über sämtliche Konzentrationslager. Das 1939 gebildete Reichssicherheitshauptamt, die Planungszentrale für die Verbrechen im deutsch besetzten Europa, ist ihr zugeordnet.

Der SD (Sicherheitsdienst des Reichsführers SS) wird 1931 durch den Reichsführer SS Heinrich Himmler zunächst als Nachrichtendienst der SS (Schutzstaffel) gebildet und soll Informationen über politische Gegner/-innen und Oppositionsströmungen innerhalb der Nationalsozialisten sammeln. Ab 1934 wird der SD zum Nachrichtendienst der NSDAP. Er untersteht Reinhard Heydrich, der den SD 1939 im neugebildeten Reichssicherheitshauptamt mit der Sicherheitspolizei (Gestapo und Kripo) zusammenlegt.

Als »Gewohnheitsverbrecher« gelten seit den 1920er Jahren Personen, die wegen mehrerer Straftaten verurteilt sind. Bereits Ende 1933 nimmt die nationalsozialsozialistische Regierung diese Personengruppe mit einem eigenen Gesetz ins Visier. »Gefährlichen Gewohnheitsverbrechern« spricht die nationalsozialistische Justiz ab, sich bessern zu können, weil sie Kriminalität für vererbbar hält. Gegen diese Menschen ordnen Richter unbefristete »Sicherungsverwahrung« an. Später werden sie häufig auch als »Berufsverbrecher« bezeichnet.

Abkürzung für Konzentrations­lager

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

(grüner Win­kel, schwarzer Win­kel)

In den Konzentrationslagern beraubt die SS die Häftlinge ihrer Namen und vergibt Nummern. Neben der Nummer müssen die Häftlinge unterschiedlich farbige Win­kel an ihrer Kleidung tragen. Die Win­kel verweisen auf den Grund der Haft. Die SS schafft damit auch eine Hierarchie der Gefangenen. Die Farbe des Win­kels hat Einfluss auf die Behandlung im Lager. Personen, die den schwarzen Win­kel tragen, gelten als »asozial«, Menschen mit dem grünen Win­kel als »Berufsverbrecher«.

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

In den Konzentrationslagern ernennt die SS einige Gefangene zu sogenannten Häftlingsvorarbeitern. Für eine bessere Behandlung müssen sie ihre Mithäftlinge überwachen und Anweisungen der SS durchsetzen. Diese beabsichtigte Umkehr von Opfer und Täter führt zu Misstrauen und Spaltung unter den Gefangenen. In vielen Erinnerungsberichten beschreiben Überlebende die sogenannten Kap­os oder Funktionshäftlinge als gewalttätig und grausam.

In den Konzentrationslagern ernennt die SS einige Gefangene zu sogenannten Häftlingsvorarbeitern. Für eine bessere Behandlung müssen sie ihre Mithäftlinge überwachen und Anweisungen der SS durchsetzen. Diese beabsichtigte Umkehr von Opfer und Täter führt zu Misstrauen und Spaltung unter den Gefangenen. In vielen Erinnerungsberichten beschreiben Überlebende die sogenannten Kapos oder Funktions­häftlinge als gewalttätig und grausam.

Nach 1945 gibt es verschiedene Ent­schädigungsregelungen für Verfolgte des Nationalsozialismus. In Westdeutschland gilt das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) über Geld- bzw. Rentenleistungen. In der DDR erhalten Überlebende Geld und Sachleistungen von den »Ausschüssen der Opfer des Faschismus«. In Österreich regelt das Opferfürsorgerecht mögliche Ansprüche. In allen drei Staaten bleiben als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgte über Jahrzehnte von Ent­schädigungen ausgeschlossen.

Als »Berufs­verbrecher« werden seit den 1920er Jahren Personen bezeichnet, die Straftaten begehen, um daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits im November 1933 gehen die Nationalsozialisten entschieden mit einer vorbeugenden Polizeihaft gegen diese Personengruppe vor. Als »Berufs­verbrecher« gilt, wer in fünf Jahren drei Mal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde. Die Kriminalpolizei kann damit Betroffene ohne Verdacht in »Vorbeugungshaft« nehmen.