Carl Schrade

Carl Schrade

geboren am 17. April 1896 in Zürich – gestorben am 28. November 1974 in Zürich

Bereits im April 1945 ahnt Carl Schrade, dass niemand das Schicksal eines »Berufsverbrechers« hören will. Unmittelbar nach der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg beginnt er, seine Vergangenheit zu verschleiern. So ändert er – oder einer seiner Freunde – den Eintrag im »Häftlingsnummernbuch«: Die hinter seinem Namen stehende Abkürzung BV für »Berufsverbrecher« wird kurzerhand mit Sch für »Schutzhäftling« überschrieben. Damit wäre Carl Schrade aus »politischen« Gründen im Lager inhaftiert gewesen.

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Als »Berufs­verbrecher« werden seit den 1920er Jahren Personen bezeichnet, die Straftaten begehen, um daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits im November 1933 gehen die Nationalsozialisten entschieden mit einer vorbeugenden Polizeihaft gegen diese Personengruppe vor. Als »Berufs­verbrecher« gilt, wer in fünf Jahren drei Mal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde. Die Kriminalpolizei kann damit Betroffene ohne Verdacht in »Vorbeugungshaft« nehmen.

Zeuge seiner Zeit

[…]

8 Sch Schrade, Karl Zürich (Schweizer) 17.4.96 19.10.34

[…]

Carl Schrades Vorahnung, dass einem vermeintlich »Kriminellen« kein Glaube geschenkt werden würde, bewahrheitet sich im Flossenbürg-Hauptprozess. Als er als Zeuge vor Gericht tritt, zweifeln die Verteidiger seine Glaubwürdigkeit an. Wiederholt fragen sie ihn nach den Gründen seiner Inhaftierung und der Farbe seines Winkels.

Doch Carl Schrade wehrt sich und betont, dass er »genauso wie Hunderttausend und Millionen andere ein Opfer des Faschismus« gewesen sei.

Carl Schrade als Zeuge während des Flossenbürg-Prozesses in Dachau
Juni 1946, Carl Schrade (rechts stehend) als Zeuge während des Flossenbürg-Prozesses in Dachau
Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Vermutlich bereits kurz nach seiner Befreiung aus dem KZ Flossenbürg beginnt Carl Schrade damit, seine Erfahrungen und Erinnerungen zu dokumentieren und niederzuschreiben:

»Ich bin kein Schriftsteller – der Leser wird es bald merken – und ich hatte nie die Absicht, ein literarisches Werk zu schaffen. Dieses Buch wird sicher das einzige bleiben, das ich je schreiben werde. Aber angesichts der Tatsache, dass ich elf Jahre meines Lebens in deutschen Konzentrationslagern verbracht habe und die Organisation dieser Lager schon vor dem Krieg gründlich kennenlernte, erschien es mir und meinen Kameraden als eine Pflicht, der Nachwelt dieses Zeugnis zu hinterlassen.«

So beginnt Carl Schrade seine Aufzeichnungen.

Es sind vor allem seine Freunde, die ihm raten, zu schreiben. Nicht nur, um der Nachwelt ein Zeugnis zu hinterlassen, sondern auch, um das Erlebte zu verarbeiten.

Der Erinnerungsbericht ist detailliert. Manchmal scheint es, als stünde Carl Schrade nach wie vor als Zeuge vor Gericht, der die Verbrechen der Täter zusammenträgt. Seine Schilderungen stehen unter dem Eindruck des Flossenbürg-Hauptprozesses. Man merkt, wie sehr das Misstrauen und die Zweifel der Anwälte an ihm nagen. Hinzu kommt, dass sich nur ein Bruchteil der SS-Männer überhaupt vor Gericht verantworten muss. Die Urteile selbst fallen in Regel milde aus. So schreibt Schrade:

»Ich war sehr beeindruckt von der feierlichen Zeremonie und der Fairness der Richter […]. In einigen Fällen waren die Urteile absolut gerecht. In anderen Fällen hat leider eine gewisse Nachsichtigkeit dazu geführt, dass es wahrhaftigen Mördern gelang, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Solches Glück hatten ihre Opfer nicht.«

Elf Jahre verbringt Carl Schrade in fünf Konzentrationslagern. Elf Jahre lautet auch der Erinnerungsbericht des Mannes, der von den Nationalsozialisten als vermeintlicher »Berufsverbrecher« verfolgt und eingesperrt wird.

In Deutschland will Carl Schrade nach der Befreiung nicht bleiben. Nach seiner Zeugenaussage im Prozess reist er im Juli 1946 direkt in die Schweiz weiter, wo er den Rest seines Lebens verbringt. Er arbeitet zunächst als kaufmännischer Angestellter, später als Reisevertreter. Seine Bemühungen um Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus bleiben erfolglos. Seinen Entschädigungsantrag lehnen die Behörden 1958 endgültig ab. Ihnen gilt er nach wie vor als »Berufsverbrecher« und damit nicht als Opfer des Nationalsozialismus.

Wann genau Schrade seinen Erinnerungsbericht fertigstellt ist unklar – das Originalmanuskript ist verschollen. Das überlieferte französischsprachige Manuskript stammt aus den 1950er Jahren und trägt die handschriftliche Aufschrift Livre de Carl.

Umschlag mit der Aufschrift »Livre de Carl« (»Carls Buch«)
Umschlag »Livre de Carl« (»Carls Buch«), in dem das Manuskript von Carl Schrade aufbewahrt wurde.
Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Die Aufzeichnungen werden zu Carl Schrades Lebzeiten nie veröffentlicht. Er stirbt im November 1974 im Alter von 78 Jahren in Zürich.

Erst 2011 wird der Erinnerungsbericht auf Französisch publiziert. Die deutsche Ausgabe erscheint drei Jahre später. Sein Selbstzeugnis Elf Jahre – Ein Bericht aus deutschen Konzentrationslagern ist eine der wenigen Überlieferungen eines Menschen, der als »Berufsverbrechers« verfolgt und eingesperrt wurde.

Die SS (»Schutzstaffel«) unter der Leitung von Heinrich Himmler versteht sich als elitärer Wehrverband des nationalsozialistischen Staates. Mit der Übernahme und dem Umbau der Polizei durch Himmler wird die SS zum zentralen Terrorinstrument des Regimes. 1934 erhält sie erhält die Kontrolle über sämtliche Konzentrationslager. Das 1939 gebildete Reichssicherheitshauptamt, die Planungszentrale für die Verbrechen im deutsch besetzten Europa, ist ihr zugeordnet.

Abkürzung für Konzentrations­lager

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

(grüner Win­kel, schwarzer Win­kel)

In den Konzentrationslagern beraubt die SS die Häftlinge ihrer Namen und vergibt Nummern. Neben der Nummer müssen die Häftlinge unterschiedlich farbige Win­kel an ihrer Kleidung tragen. Die Win­kel verweisen auf den Grund der Haft. Die SS schafft damit auch eine Hierarchie der Gefangenen. Die Farbe des Win­kels hat Einfluss auf die Behandlung im Lager. Personen, die den schwarzen Win­kel tragen, gelten als »asozial«, Menschen mit dem grünen Win­kel als »Berufsverbrecher«.

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Nach 1945 gibt es verschiedene Ent­schädigungsregelungen für Verfolgte des Nationalsozialismus. In Westdeutschland gilt das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) über Geld- bzw. Rentenleistungen. In der DDR erhalten Überlebende Geld und Sachleistungen von den »Ausschüssen der Opfer des Faschismus«. In Österreich regelt das Opferfürsorgerecht mögliche Ansprüche. In allen drei Staaten bleiben als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgte über Jahrzehnte von Ent­schädigungen ausgeschlossen.

Als »Berufs­verbrecher« werden seit den 1920er Jahren Personen bezeichnet, die Straftaten begehen, um daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits im November 1933 gehen die Nationalsozialisten entschieden mit einer vorbeugenden Polizeihaft gegen diese Personengruppe vor. Als »Berufs­verbrecher« gilt, wer in fünf Jahren drei Mal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde. Die Kriminalpolizei kann damit Betroffene ohne Verdacht in »Vorbeugungshaft« nehmen.