»Schlurfmädel« gegen die Nazis
Der Liedtext, den Franziska V. in ein Heft schreibt, drückt das aus:
»Machts euch um uns doch keine Sorgen,
denn wir Schlurfweiber sterben net aus.
Steckens uns auch in a Anstalt,
mir kumman ihnen trotzdem wieder aus.
Denn pfeiff ma ihnen auf die Arbeit
und kumman nächtelang net z’haus,
drum Weiber lasst euch net hobeln,
denn sonst ist’s mit eurer Freiheit aus.«
Doch bei ihren Eltern stößt die Lebensweise von Franziska V. auf Ablehnung. Sie kommt oft spät nach Hause und hat kein Interesse an einer festen Arbeit. Hilfesuchend wendet sich ihre Mutter im Frühjahr 1942 an das Wiener Jugendamt und spricht in der »Erziehungsberatung« vor. Die Behörden handeln schnell: Eine Woche später wird Franziska V. in einem Erziehungsheim untergebracht, »Zur Beobachtung«, heißt es. Weitere Aufenthalte in anderen Erziehungsanstalten folgen.
Ein Jahr später vermittelt das Arbeitsamt Franziska als Haushalthilfe. Für kurze Zeit darf sie zurück zu ihren Eltern. »Wegen verschiedener Diebstähle« wird sie laut Akten entlassen. Das Amtsgericht Wien beschließt daraufhin die endgültige Fürsorgeerziehung. Sie kommt wieder in ein Heim. Im Gutachten der Erziehungsberaterin heißt es, sie sei »arbeitsscheu« und »sittlich verwahrlost«.
Im Juli 1943 wird sie auf Veranlassung des Mediziners Ernst Illing von der Städtischen Nervenklinik für Kinder in Wien in den Wanderhof Bischofsried nach Oberbayern gebracht. Die Medizinerin Dr. Hell führt dort ein Gespräch mit Franziska V. und schreibt in ihrer Beurteilung, sie »durchseuche die Anstalt mit dem ›Schlurfgeist‹«. Die Ärztin empfiehlt, sie mit »eiserner Härte und Schärfe« durch Arbeit zu erziehen.
Franziska V. versucht mehrfach aus Bischofsried zu fliehen. Nach einer gescheiterten Flucht im Juli 1944 wird sie im Wanderhof »isoliert«. Daraufhin versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Ihre Eltern schreiben nach Bischofsried mit der Bitte, die Tochter zu entlassen oder in eine Anstalt in Wien zurückzuverlegen. Doch die Bitte der Eltern wird abgelehnt. Nach einem Jahr in Bischofsried verlegt das Gaujugendamt Wien Franziska V. nach Norddeutschland in das »Jugendschutzlager« Uckermark.
Wie lange sie in dem Jugend-KZ bleiben muss, ist nicht bekannt. Im Juli 1945 ist Franziska V. zurück in Wien. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 18 Jahre alt. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
* Name geändert
Abkürzung für Konzentrationslager
Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrationslagern inhaftiert.
Menschen, die keine feste Wohnung haben und von Ort zu Ort ziehen, werden »Wanderer« genannt. Sie arbeiten im Sommer oftmals in der Landwirtschaft und überwintern in »Wanderhöfen«. Im Nationalsozialismus weist die Fürsorge Menschen dort unter Zwang ein und verpflichtet sie zu arbeiten. Die dort eingesperrten Personen sehen die Nationalsozialisten als »arbeitsscheu« und »minderwertig« an. Ihnen drohen Zwangssterilisation und Konzentrationslager.
»Schlurfs« nennen sich Arbeiterjugendliche in Wien, die zur Zeit der NS-Herrschaft ihren eigenen Mode- Stil entwickeln und zu Jazzmusik tanzen. Das Wort »Schlurf« steht im österreichischen Sprachgebrauch für Müßiggang. Ähnlich wie die Hamburger »Swings«, die Pariser »Zazous«, die Prager »Potápki« leben »Schlurfs« in ihrer eigenen jugendlichen Subkultur, die im entschiedenen Gegensatz zu den militärisch getrimmten NS-Jugendorganisationen steht. Sie werden von den Nationalsozialisten verfolgt.
Im Nationalsozialismus überwacht die Polizei auch Jugendliche. Nach Kriegsbeginn errichtet sie zwei KZ-ähnliche »Jugendschutzlager«: Für männliche Jugendliche das KZ Moringen, für Mädchen und junge Frauen das KZ Uckermark. Auf unbestimmte Zeit eingewiesen werden Minderjährige zwischen 13 und 21 Jahren, denen Fürsorge und Polizei »widerspenstiges« oder »sittlich verkommenes« Verhalten vorwerfen. Sie werden meist als angeblich »asozial« inhaftiert, viele aber auch aus politischen Gründen.
Das Jugendamt ist ein Teil der öffentlichen Fürsorge und hat den Auftrag, hilfsbedürftige Kinder und Jugendliche sowie deren Familien zu unterstützen. Allerdings wählen die Nationalsozialisten genau aus, wen sie unterstützen. Um an die nötigen Informationen über die Familien zu gelangen, arbeitet das Jugendamt eng mit dem Wohlfahrtsamt und den nationalsozialistischen Jugendorganisationen zusammen. Wenn Kinder und Jugendliche den Behörden auffallen, kann das Jugendamt Fürsorgeerziehung beantragen.
Unter Fürsorge werden die Hilfe und Sorge für andere Menschen verstanden. Zur öffentlichen Fürsorge zählen neben den Jugend- und Gesundheitsämtern die Wohlfahrtsämter. Sie sollen zum Beispiel Arbeitslose mit Geld unterstützen. Die Nationalsozialisten schließen verschiedene Personengruppen von der Fürsorge aus, weil sie nicht als Teil der »Volksgemeinschaft« angesehen werden. Darunter sind Juden oder Menschen, die als »arbeitsscheu« und »asozial« gelten.
In Heime kommen Jugendliche, die keine sorgende Familie haben oder ein unerwünschtes Verhalten zeigen. Die Nationalsozialisten greifen dafür auf Einrichtungen zurück, die meist von den Kirchen betrieben werden. Das Heimpersonal ist häufig gewalttätig und soll überdies die Jugendlichen bewerten: Wenn sie als »unerziehbar« eingestuft werden, droht ihnen die Zwangssterilisation. Außerdem werden einige in Jugendkonzentrationslager eingewiesen oder in Kliniken ermordet.
Der Begriff wurde von Behörden bereits vor 1933 verwendet. Die Nationalsozialisten verunglimpfen damit Arbeitslose, denen sie vorwerfen, sich keine Arbeit suchen zu wollen. Diese Personen erhalten keine staatliche Hilfe – stattdessen zwingt die Fürsorge sie zu schwerer Arbeit und sperrt die Polizei sie vielfach in Konzentrationslagern ein. Allein 1938 verhaftet sie mehr als 10.000 Personen. »Arbeitsscheue« gilt den Nationalsozialisten als erblich und als Gefahr für die »Volksgemeinschaft«.
Staatliche Arbeitsämter sind in Deutschland seit der Weimarer Republik für die Arbeitsvermittlung zuständig. Ab 1933 werden sie zu einem Werkzeug der nationalsozialistischen Arbeitspolitik. Sie beteiligen sich an der Verfolgung von Personen, die sich aus unterschiedlichen Gründen weigern, eine Arbeit anzunehmen, streichen ihnen die Unterstützung und melden sie der Polizei. Im Zweiten Weltkrieg sind deutsche Arbeitsämter an der Verschleppung von Zwangsarbeitern und am Holocaust beteiligt.