Täter-Opfer: Die Geschichte des Funktionshäftlings Emil Mahl

Die Bewertung des Verhaltens von KZ-Häftlingen untereinander und gegenüber der SS ist bis heute von hartnäckigen Zuschreibungen geprägt, die Jahrzehnte überdauert haben. Besonders die Gruppe jener gerät hier in den Blick, die in die Lager unter der polizeilichen Kategorie »Berufsverbrecher« verbracht wurden und dort den grünen Winkel an ihrer Kleidung tragen mussten. Sie verfolgt bis heute der Ruf, besonders brutal gegenüber Mithäftlingen gewesen zu sein.

In der Literatur werden sie wahlweise als skrupellose Egoisten oder als moralisch labile Opportunisten beschrieben – insbesondere dann, wenn sie in der Lagerhierarchie zu einem Funktionshäftling (Kapo) aufstiegen, die also für eine bessere Behandlung häufig ihre Mithäftlinge überwachen und Anweisungen der SS durchsetzen mussten. Bis heute werden sie als willige Handlanger der SS, die besonders gewalttätig und grausam agierten, dargestellt. Funktionshäftlinge entstammten allerdings, dies sei hier angemerkt, aus verschiedenen Häftlingsgruppen.

Ein ambivalentes Beispiel für die Doppelfunktion Täter-Opfer ist der berüchtigte Funktionshäftling Emil Mahl.[1] Der gebürtige Karlsruher und Mitglied der Neuapostolischen Kirche wird am 17. Oktober 1941 im Alter von 40 Jahren in das KZ Dachau eingeliefert. Überstellt wird er aus dem Gefängnis in Bruchsal, in dem er bereits seit Anfang 1938 in Haft gewesen war. Als Grund für die Inhaftierung vermerkt die SS »Berufsverbrecher«, bzw. »PSV« (polizeiliche Sicherungsverwahrung), die genaueren Hintergründe der Inhaftierung sind jedoch unbekannt. 1943 meldet er sich zum Arbeitskommando des Krematoriums und wird 1944 der verantwortliche Kapo. Mahl überlebt die Haft. In den Dachauer Nachkriegs-Prozessen wird ihm vorgeworfen, an bis zu 1.000 Hinrichtungen im Lager beteiligt gewesen zu sein, die im Bereich des Krematoriums stattfanden. Zwar räumt die Anklage ein, dass nicht jeder Kapo sich durch seine Funktion automatisch schuldig gemacht hatte, doch wird Mahl und zwei weiteren ehemaligen Funktionshäftlingen aufgrund ihrer Brutalität eine bereitwillige Unterstützung der Lager-SS unterstellt. Im Fall von Emil Mahl ist es jedoch wichtig zu verstehen, dass er nicht nur zweifelsfrei ein Täter war, sondern auch ein Opfer, und das nicht nur im allgemeinen Sinn. Aus Nachkriegsunterlagen geht hervor, dass Mahl im Sommer 1942 mehrfach für medizinische Versuche auf der Malariastation des Lagers missbraucht wurde. Setzt man diese Versuche in zeitliche Verbindung zu seiner Meldung zum Dienst im Krematorium, so liegt nahe, dass er darin die einzige Möglichkeit sah, aus einer potentiell lebensgefährlichen Situation zu entkommen – letztendlich aber zum Preis, selber Täter zu werden. Emil Mahl wird im Dezember 1945 zum Tode verurteilt. Später wird das Urteil in eine zehnjährige Haftstrafe umgewandelt, aus der er 1952 entlassen wird.[2]

Ein Zeuge der Anklage deutet während den Prozessen in Dachau auf den Angeklagten Emil Mahl
© United States Holocaust Memorial Museum, Provenance: Leslie Urch, Source Record ID: Collections: 2006.117

Bei der Betrachtung der Häftlinge mit dem grünen Winkel bleiben häufig zwei wichtige Sachverhalte unberücksichtigt. Zum einen waren die Häftlinge, die den grünen Winkel trugen, bis 1942 in der Regel Kleinkriminelle, die wegen geringfügiger Eigentumsdelikte vorbestraft waren. Zudem wurden sie nicht aufgrund einer tatsächlich begangenen Straftat eingesperrt, sondern im Rahmen der »Polizeilichen Vorbeugungshaft« ohne Gerichtsurteil. Eine weitere Gruppe von Häftlingen kam ab 1942 in die Lager: die Sicherungsverwahrten, die bisher in Gefängnissen gesessen hatten. Hintergrund war der massive Bedarf an Zwangsarbeitern in der Rüstungsindustrie, in der KZ-Häftlinge ausgebeutet werden und dann der »Vernichtung durch Arbeit« anheimfallen sollten. Es bleibt festzuhalten, dass diese Formen des Freiheitsentzugs Unrecht darstellten. Sie war nicht richterlich angeordnet und zudem zeitlich unbefristet. Außerdem waren die Gefangenen mit einem von der SS geschaffenen System des Terrors konfrontiert und fortwährend mit dem Tod bedroht. Die Gewaltpraxis von Häftlingen bzw. die Entscheidung, im Lager Gewalt anzuwenden, ist häufig nicht zu trennen von einer individuellen Überlebensstrategie – unabhängig der Herkunft oder Winkelfarbe des einzelnen Häftlings.


[1] Quellen zu Emil Mahl: nicht öffentlich zugängliche Akte bei den Arolsen Archives; Case No. 000-50-2 (US v. Martin Gottfried Weiss et al) Trial concluded 13 December 1945; Lessing, Der erste Dachauer Prozess.

[2] Zur Komplexität der Häftlingsgesellschaft s.a. Suderland, Extremfall des Sozialen, S. 231.

Dr. Stefan Treiber

Die SS (»Schutzstaffel«) unter der Leitung von Heinrich Himmler versteht sich als elitärer Wehrverband des nationalsozialistischen Staates. Mit der Übernahme und dem Umbau der Polizei durch Himmler wird die SS zum zentralen Terrorinstrument des Regimes. 1934 erhält sie erhält die Kontrolle über sämtliche Konzentrationslager. Das 1939 gebildete Reichssicherheitshauptamt, die Planungszentrale für die Verbrechen im deutsch besetzten Europa, ist ihr zugeordnet.

Abkürzung für Konzentrations­lager

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Die Sicherungsverwahrung hält verurteilte Personen über ihre Strafdauer hinaus in Haft. Dieses Instrument führen die Nationalsozialisten 1933 per »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« ein. Diesen inhaftierten Personen sprechen Richter ab, sich bessern zu können. Sie stützen sich dabei häufig auf kriminalbiologische Vermutungen. Die Justiz übergibt im Jahr 1942 alle Sicherungsverwahrten an die SS. Sie sollen laut Himmler-Thierack-Abkommen in Konzentrationslagern sterben.

Kurz nach ihrer Machtübernahme 1933 führen die Nationalsozialisten die »Vorbeugungshaft« als Instrument der »Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« ein. Die Kriminalpolizei wird damit ermächtigt, mehrfach vorbestrafte Personen erneut festzunehmen und auf unbestimmte Zeit in Konzentrationslager zu überstellen. Mit einem Erlass vom Dezember 1937 geraten auch Personen ins Visier, denen »verbrecherische« oder »asoziale« Neigungen unterstellt wurden. Richterliche Überprüfungen gibt es nicht.

(grüner Win­kel, schwarzer Win­kel)

In den Konzentrationslagern beraubt die SS die Häftlinge ihrer Namen und vergibt Nummern. Neben der Nummer müssen die Häftlinge unterschiedlich farbige Win­kel an ihrer Kleidung tragen. Die Win­kel verweisen auf den Grund der Haft. Die SS schafft damit auch eine Hierarchie der Gefangenen. Die Farbe des Win­kels hat Einfluss auf die Behandlung im Lager. Personen, die den schwarzen Win­kel tragen, gelten als »asozial«, Menschen mit dem grünen Win­kel als »Berufsverbrecher«.

In den Konzentrationslagern ernennt die SS einige Gefangene zu sogenannten Häftlingsvorarbeitern. Für eine bessere Behandlung müssen sie ihre Mithäftlinge überwachen und Anweisungen der SS durchsetzen. Diese beabsichtigte Umkehr von Opfer und Täter führt zu Misstrauen und Spaltung unter den Gefangenen. In vielen Erinnerungsberichten beschreiben Überlebende die sogenannten Kap­os oder Funktionshäftlinge als gewalttätig und grausam.

In den Konzentrationslagern ernennt die SS einige Gefangene zu sogenannten Häftlingsvorarbeitern. Für eine bessere Behandlung müssen sie ihre Mithäftlinge überwachen und Anweisungen der SS durchsetzen. Diese beabsichtigte Umkehr von Opfer und Täter führt zu Misstrauen und Spaltung unter den Gefangenen. In vielen Erinnerungsberichten beschreiben Überlebende die sogenannten Kapos oder Funktions­häftlinge als gewalttätig und grausam.

Als »Berufs­verbrecher« werden seit den 1920er Jahren Personen bezeichnet, die Straftaten begehen, um daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits im November 1933 gehen die Nationalsozialisten entschieden mit einer vorbeugenden Polizeihaft gegen diese Personengruppe vor. Als »Berufs­verbrecher« gilt, wer in fünf Jahren drei Mal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde. Die Kriminalpolizei kann damit Betroffene ohne Verdacht in »Vorbeugungshaft« nehmen.