Werbung für Meyers Lexikon mit dem Stichwort »asozial«

Als wir bei unseren Recherchen durch die Ausgabe des »Völkischen Beobachters« vom 16. April 1938 blättern, stoßen wir auf Werbung für das berühmte Meyers Lexikon. Dass dieses Nachschlagewerk in der auflagenstärksten nationalsozialistischen Tageszeitung für sich wirbt, entspricht seiner damaligen politischen Ausrichtung. Auf den ersten Blick handelt es sich also um eine unscheinbare Werbeanzeige – eine von vielen in diesem Blatt (?). Als wir allerdings genauer hinsehen, verändert sich unser Eindruck.

Aus den 300.000 Stichwörtern des Lexikons wählt der Verlag ausgerechnet diese drei aus: Akademiker – Arbeiter – asozial. In den Zeilen zu letzterem erfahren die Leser/-innen, dass der »Asoziale« angeblich gegen die Gemeinschaft handle – gemeint ist die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft«. Beispielhaft führt der Lexikoneintrag »Landstreicher« sowie »Arbeitsscheue« an und betont das staatliche Vorgehen gegen sie.

Asozial ist jemand, der sich gegen die ihm von der jeweiligen Gemeinschaft oder Gruppe auferlegten Pflichten und Bindungen innerlich gelichgültig und äußerlich passiv verhält (z. B. Landstreicher, Arbeitsscheue). Die asoziale Haltung wird zur antisozialen durch aktiven Widerstand (z. B. Verbrecher). – Asoziale können, soweit nicht der Staat eingreift (↑ Sicherungsverwahrung), durch die Gemeinden zu Wohnblockgemeinschaften zwangsweise zusammengeschlossen werden, bes. soweit sie bereits ihre Wohnungen bei Privaten räumen mußten. In besonders schweren Fällen Unterbringung in gemeindlichen ↑ Arbeitshäusern…..

Diese Stichwortauswahl ist sicherlich nicht zufällig: Sie unterstreicht, wie bedeutend der Begriff »asozial« in der nationalsozialistischen Herrschaftszeit war. Der Verlag erwartet offensichtlich, dass er das Interesse der Leser/-innen für das ganze Lexikon wecken wird. Wir sehen darin ein Beispiel alltäglicher Propaganda.

Bemerkenswert ist der Zeitpunkt, an dem diese Werbeanzeige gedruckt wird. Wenige Tage später beginnt die Gestapo mit der Verschleppung von 1.500 bis 2.000 Männern in das Konzentrationslager Buchenwald. Diese bis Ende April 1938 andauernde Verhaftungswelle wird als »Aktion Arbeitsscheu Reich« bezeichnet und ist gegen Menschen gerichtet, die zu »Asozialen« erklärt werden. Im Juni dieses Jahres folgt die nächste Welle mit mehreren Tausend Inhaftierten. Die nationalsozialistische Presse berichtet nicht – aber die Lexikonwerbung illustriert, dass das Feindbild »Asoziale« längst öffentlich ist.

Menschen werden als »asozial« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.

Der Begriff wurde von Behörden bereits vor 1933 verwendet. Die Nationalsozialisten verunglimpfen damit Arbeitslose, denen sie vorwerfen, sich keine Arbeit suchen zu wollen. Diese Personen erhalten keine staatliche Hilfe – stattdessen zwingt die Fürsorge sie zu schwerer Arbeit und sperrt die Polizei sie vielfach in Konzentrationslagern ein. Allein 1938 verhaftet sie mehr als 10.000 Personen. »Arbeitsscheue« gilt den Nationalsozialisten als erblich und als Gefahr für die »Volksgemeinschaft«.

Die Sicherungsverwahrung hält verurteilte Personen über ihre Strafdauer hinaus in Haft. Dieses Instrument führen die Nationalsozialisten 1933 per »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« ein. Diesen inhaftierten Personen sprechen Richter ab, sich bessern zu können. Sie stützen sich dabei häufig auf kriminalbiologische Vermutungen. Die Justiz übergibt im Jahr 1942 alle Sicherungsverwahrten an die SS. Sie sollen laut Himmler-Thierack-Abkommen in Konzentrationslagern sterben.

Die »Volks­gemeinschaft« ist das nationalsozialistische Ideal des Zusammenlebens von deutschen »Volksgenossen«. Wer dazugehört und wer nicht, bestimmen rassistische Kriterien. Die Ausgeschlossenen werden als »Volksschädlinge« herabgewürdigt. Zu ihnen zählen Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, politische Gegner/-innen, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, aber auch »Asoziale« und »Berufsverbrecher«.

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Die Nationalsozialisten schaffen die »Geheime Staatspolizei« zur Bekämpfung politischer Gegner/-innen. Auch an der Verfolgung von Minderheiten ist sie maßgeblich beteiligt. Ohne richterliche Prüfung können Beamte Wohnungen durchsuchen, Personen inhaftieren, in Konzentrationslager bringen oder ermorden. Sie erzwingen in Verhören Geständnisse unter Folter. In den besetzten Gebieten sind Ge­stapo­beamte an Massenerschießungen und anderen Verbrechen beteiligt.

Menschen werden als »A­soziale« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.