Speyer erinnert sich – Veranstaltung mit Alfons L. Ims

Im Foyer der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer sind an diesem lauen Septemberabend fast alle Plätze besetzt. Der Autor Alfons L. Ims sitzt gemeinsam mit dem Archivar Dr. Walter Rummel, mir und der Chefin des Hauses und Moderatorin, Ute Bahrs, auf einem Podium. Wir diskutieren über sein Buch »Eine ›asoziale‹ Pfälzer Familie«. Es ist bereits die zweite Vorstellung der Publikation in der Pfalz. Warum Speyer, wo doch die Familie Ims in Kaiserslautern wohnte? Speyer ist mit der Geschichte der Großfamilie Ims während des Nationalsozialismus, aufs Engste verbunden. In die dortige Diakonissenanstalt hatte das Jugendamt Kaiserslautern fast alle der Kinder in »Fürsorgeerziehung« bringen lassen. Zwei von ihnen entgingen später nur knapp dem NS-Mordprogramm der »Euthanasie«. Schwester Corinna Kloss, Leitenden Pfarrerin der Diakonissen Speyer betonte in ihren Begrüßungsworten die Verantwortung auch Ihrer Einrichtung zum Schutz jeglichen Lebens.

Buchvorstellung mit Alfons Ims in Speyer. Auf der Bühne: Dr. Ulrich Baumann, Dr. Walter Rummel, Alfons L. Ims und Ute Bahrs (v.l.n.r.)
Buchvorstellung in der Pfälzischen Landesbibliothek in Speyer. Alfons L. Ims (2.v.r) im Gespräch mit Dr. Ulrich Baumann, Dr. Walter Rummel und Ute Bahrs (v.l.n.r).
Foto: Jonas Kolbenschlag

Die Veranstaltung liefert zunächst die historischen Zusammenhänge und ideologischen Grundlagen der Verfolgung der Familie. Es erscheint mir lehrreich, wie fremd das Thema dem heutigem Publikum erscheint. So erfreulich es einerseits ist, dass nationalsozialistische Vorstellungen von einer »erbbiologischen« oder »volkspflegerischen« »Siebfunktion« der Fürsorge mittlerweile gar nicht mehr verstanden werden, so deutlich werden hier die Herausforderungen der Vermittlung. Auch an dem Abend ist diese nicht gänzlich gelungen. So steht eine Zuhörerin auf und zeigt sich betroffen vom »Versagen der Pädagogik« im Nationalsozialismus. Wenn ich die Dame richtig verstehe, geht sie davon aus, dass die Erziehungslehre (und -praxis) im »Dritten Reich« im Grunde gescheitert sei, weil sie sich nicht vehement genug gegen die NS-Prämissen eingesetzt und damit ihre Schutzbefohlenen preisgegeben habe. Doch war es eben gar kein Versagen in diesem Sinn – versagen können nur Personen oder Einrichtungen, die eigentlich etwas anderes erreichen wollten oder ihre Ziele verfehlt haben. Pädagogik und Fürsorge im Nationalsozialismus standen nicht außerhalb des Systems, sondern teilten seine ideologischen Grundlagen, haben es mitgeprägt und mitgetragen. Das auszuhalten ist schwer, und dies war auf der Veranstaltung zu spüren.

Dr. Ulrich Baumann

Menschen werden als »asozial« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.

Als »Euthanasie« (altgriechisch: schöner Tod) bezeichnen die Nationalsozialisten den Massenmord an Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen. Im Rahmen der »Aktion T4« töten Ärzte und Pflegepersonal 1940/41 über 70.000 Patient/-innen aus Heil- und Pflegeanstalten. Nach Protesten der Bevölkerung wird das Programm offiziell abgebrochen, heimlich aber fortgeführt. Insgesamt werden bis 1945 europaweit etwa 300.000 Patient/-innen in Tötungsanstalten, durch Medikamente oder gezieltes Verhungern ermordet.

Das Jugend­amt ist ein Teil der öffentlichen Fürsorge und hat den Auftrag, hilfsbedürftige Kinder und Jugendliche sowie deren Familien zu unterstützen. Allerdings wählen die Nationalsozialisten genau aus, wen sie unterstützen. Um an die nötigen Informationen über die Familien zu gelangen, arbeitet das Jugend­amt eng mit dem Wohlfahrtsamt und den nationalsozialistischen Jugendorganisationen zusammen. Wenn Kinder und Jugendliche den Behörden auffallen, kann das Jugend­amt Fürsorgeerziehung beantragen.

Unter Für­­sorge werden die Hilfe und Sorge für andere Menschen verstanden. Zur öffentlichen Für­sorge zählen neben den Jugend- und Gesundheitsämtern die Wohlfahrtsämter. Sie sollen zum Beispiel Arbeitslose mit Geld unterstützen. Die Nationalsozialisten schließen verschiedene Personengruppen von der Fürsorge aus, weil sie nicht als Teil der »Volksgemeinschaft« angesehen werden. Darunter sind Juden oder Menschen, die als »arbeitsscheu« und »asozial« gelten.