Die Großmutter ohne Gesicht
Mit gerade einmal 16 Jahren ist Erna Lieske alleine. Ihre Mutter verstirbt als sie vier Jahre alt war, ihr Onkel, bei dem sie aufgewachsen war, fällt 1916 im Ersten Weltkrieg. Wie sie ihren Lebensunterhalt bestreitet, ist unklar. Anhand der Verhaftungen und Verurteilungen zwischen 1917 und 1919 lassen sich Vermutungen anstellen. Es sind Delikte wie Unterschlagung, Betrug und Diebstahl – allesamt Taten, die auf ihre wirtschaftliche Notlage hinweisen. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wird Ernas Heimat zum Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen zwischen Polen und Deutschen. Im Zuge dessen zieht sie nach Thüringen.
Im August 1920 wird sie dort zum ersten Mal Mutter. In Gotha bringt sie ihre Tochter zur Welt. Ende 1924 wird ihr Sohn, der Vater von Liane Lieske, geboren. Beide Kinder darf sie aufgrund der ihr zur Last gelegten früheren Straftaten nicht aufziehen. Sie werden ihr entzogen und wachsen in Jugendpflegeheimen und Waisenhäusern auf. Ernas Versuche, Kontakt zu ihnen aufzunehmen, scheitern immer wieder an den Behörden. In den folgenden Jahren bleibt sie wohl selten lange an einem Ort: die Polizei verhaftet sie in unterschiedlichen Städten in Thüringen und Sachsen wegen kleinerer Delikte.
Hoffnung auf einen Neuanfang
1932 soll alles anders werden für Erna Lieske. Sie versucht, ihre Vergangenheit zurückzulassen und beginnt unter dem erfundenen Namen Gertrud Schulz ein neues Leben in Hamburg. Sie arbeitet in einer Druckerei. Nur wenige Monate später verhaftet die Polizei sie jedoch wegen Betrugs und Urkundenfälschung. Ihr Arbeitgeber setzt sich für sie ein und beantragt eine Strafunterbrechung. Die Staatsanwaltschaft Hamburg lehnt diese ab.

Quelle: Staatsarchiv Hamburg
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Gründe:
Die Angeklagte gibt zu, Frau Ohlstein, die Eheleute Beßler und die Witwe Seck durch die unwahre Behauptung, feste Stellung zu haben, dazu veranlaßt zu haben, ihr ein Zimmer auf Kredit zu vermieten. Sie hat dann nur teilweise bezahlt und die Vermieter, da diese bei Kenntnis ihrer Arbeitslosigkeit nicht an sie vermietet oder ihr doch keinen Kredit gewährt hätten, in Höhe der bei ihrem Auszug hinterlassenen Schulden betrogen. Die von ihr hinterlassene Schuld betrug bei Frau Oehlstein 22.50 RM, bei der Witwe Seck 2.20 RM und bei Beßlers 60.45 RM. Beßlers haben später 30.- RM beitreiben können.
Die Angeklagte gibt ferner zu, eine Einwohneranmeldung und 5 Wohnungsummeldungen mit falschen Namen unterschrieben und dem Meldeamt eingereicht zu haben.
Die Angeklagte ist mithin schuldig, zu Hamburg im Jahre 1931 durch 9 selbständige Handlungen in der Absicht, sich rechtswidrige Vermögensvorteile zu verschaffen, das Vermögen
I. 1) der Frau Oehlstein im März 1931 um 22.50 RM.
2) der Eheleute Beßler im April 1931 um 60.45 RM,
3) der Wwe. Seck im Juni 1931 um 2.20 RM
dadurch beschädigt zu haben, daß sie durch Vorspiegelung falscher Tatsachen Irrtümer erregte,
II. in rechtswidriger Absicht zum Beweise von Rechten und Rechtsverhältnissen erhebliche Privaturkunden, nämlich
1) am 30.Januar 1931 eine Einwohneranmeldung,
2) am 31. März 1931 “ Wohnungsummeldung
3) am 29.April 1931 “ “
Nach drei Jahren und zwei Monaten wird Erna Lieske aus dem Zuchthaus entlassen. Bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber in der Druckerei ist sie willkommen, ebenso bei Hedwig Knaack, ihrer Vermieterin. Zudem ist sie mit einem Polizeibeamten verlobt – das Blatt scheint sich zu wenden.
Doch im August 1937 verliert sie ihre Arbeit und ihr Verlobter trennt sich von ihr. Erna verlässt Hamburg. Bei ihrer Abreise nimmt sie den Pelzmantel von Hedwig Knaack und die Wohnungsschlüssel mit. Ihre Vermieterin ist ihr wohlgesonnen und verzichtet ausdrücklich auf eine Anzeige. Sie beschreibt Erna als »sehr fleißiges und peinlich sauberes Mädchen«.
Erna Lieske fährt im Dezember 1937 nach Küstrin, um ihre Tochter zu sehen. Sie hat damit gegen polizeiliche Auflagen verstoßen. Aufgrund ihrer Vorstrafen war ihr das verboten. Ohne Ruth getroffen zu haben, wird sie bei einer Razzia in einem Café festgenommen. Die Gestapo weist Erna Lieske in das Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel ein. Das Landesgericht Hamburg verurteilt sie in einem Prozess als »gefährliche Gewohnheitsverbrecherin« zu drei Jahren Haft. Nach dem Ende ihrer Haftstrafe kommt sie nicht frei, sondern bleibt in richterlich angeordneter »Sicherungsverwahrung«. Ein von ihrem Anwalt eingereichtes Gnadengesuch, das darauf verweist, dass sie »aus wirtschaftlicher Not gehandelt« habe, wird abgelehnt.

Quelle: Staatsarchiv Hamburg
Quelle: Staatsarchiv Hamburg
Der Vorstand
des Frauenzuchthauses
Cottbus,den 6.11.1940
Urschriftlich mit 1 Gnadengesuch
An den
Herrn Oberstaatsanwalt Mal
bei dem Landgericht
Hamburg
6 K.Ls, 13/38
übersandt.
Die Erna Lieske, geb. am 22.4.1900, verbüsst wegen fortgesetzten Diebstahls im Rückfalle eine Gesamtzuchthausstrafe von 3 Jahren und 10 Tagen; ferner wurde die Sicherungsverwahrung ausgesprochen.
Sie wird in der hiesigen Anstalt mit Nähen von Militärmänteln beschäftigt. Ihre Arbeit verrichtet sie mit Fleiss zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten. Es hat sich aber gezeigt, dass sie auch in der Anstalt versucht auf eine „süssliche“ Art die Beamtinnen zu gewinnen, um aus einem Vertrauensverhältnis Vorteile zu ziehen, wie es auch im Urteil angegeben ist.
Wegen dieser Charaktereigenschaft kann die Aufhebung der Sicherungsverwahrung nicht befürwortet werden.
I.V.
Telling
Sie bleibt in der Folge in verschiedenen Strafanstalten im ganzen Deutschen Reich inhaftiert. Zuletzt ist sie im Frauenzuchthaus und der Frauenverwahranstalt Aichach in Oberbayern untergebracht. 1942 kommen die Nationalsozialisten im Rahmen des »Himmler-Thierack-Abkommens« darüber ein, Gefangene und Sicherungsverwahrte aus Haftanstalten in die Konzentrationslager zur »Vernichtung durch Arbeit« zu überstellen. Das Gefängnis Aichach übergibt Erna Lieske der Polizei, die sie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort wird sie am 24. April 1943 ermordet.

Quelle: Staatsarchiv Hamburg
Staatliche Kriminalpolizei Kriminalpolizeistelle Augsburg
Augsburg, den 4. Mai 1943
Prinzregentenplatz 1 Fernruf 3231
X/Tgb.6.K. (BV) Nr. 586. Nr. 1586/43
An die
Staatsanwaltschaft beim Landgerichte
Hamburg.
Betrifft: Lieske Erna, geb.22.4.00 in Gr.Lubs.
Die in letzter Zeit als Justizgefangene aus dem Frauenzuchthaus Aichach in polizeiliche Vorbeugungshaft überführte
Lieske Erna,
geb.22.4.00 in Gr.Lubs, ist am 24.4.43 im Konzentrationslager Auschwitz gestorben. Letzte Vollstreckungsbehörde war die Staatsanwaltschaft Hamburg, zu A.Z. 6 KLs 13/38.
Vom Ableben der Lieske wird Kenntnis gegeben
Verfg.
- Vermerk zum Register
- Vermerk zum Register. II)An das Archin z.d. Akten. Abg.,d.6 5.43.
Just.Insp.
»Ein zweites Mal gedemütigt«
Im Jahr 2011 wird in Hamburg ein Stolperstein für Erna Lieske verlegt. Stolpersteine sind kleine Gedenkplatten, die im öffentlichen Raum an im Nationalsozialismus Verfolgte erinnern sollen. Das vom Künstler Gunther Demnig betreute Projekt gibt es in mehreren europäischen Ländern. Liane Lieske erfährt erst zwei Jahre nach der Verlegung durch einen Zufall vom Stolperstein für ihre Großmutter. Entsetzt stellt Liane Lieske fest, dass auf dem Gedenkstein unter Ernas Namen der von den Nationalsozialisten konstruierte Rechtsbegriff der »Gewohnheitsverbrecherin« prangt. Liane Lieskes Bruder findet dazu klare Worte. Erna Lieske sei »ein zweites Mal gedemütigt« worden. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Künstler Demnig und der Hamburger Stolpersteininitiative über die problematische Inschrift liegt mittlerweile ein neuer Stein für Erna Lieske. Der Begriff »Gewohnheitsverbrecherin« steht zwar nicht mehr darauf, wohl aber »Sicherungsverwahrung«. Ihre Enkelin Liane Lieske tut sich mit dieser öffentlichen Stigmatisierung immer noch schwer.
Als »Gewohnheitsverbrecher« gelten seit den 1920er Jahren Personen, die wegen mehrerer Straftaten verurteilt sind. Bereits Ende 1933 nimmt die nationalsozialsozialistische Regierung diese Personengruppe mit einem eigenen Gesetz ins Visier. »Gefährlichen Gewohnheitsverbrechern« spricht die nationalsozialistische Justiz ab, sich bessern zu können, weil sie Kriminalität für vererbbar hält. Gegen diese Menschen ordnen Richter unbefristete »Sicherungsverwahrung« an. Später werden sie häufig auch als »Berufsverbrecher« bezeichnet.
Die Sicherungsverwahrung hält verurteilte Personen über ihre Strafdauer hinaus in Haft. Dieses Instrument führen die Nationalsozialisten 1933 per »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« ein. Diesen inhaftierten Personen sprechen Richter ab, sich bessern zu können. Sie stützen sich dabei häufig auf kriminalbiologische Vermutungen. Die Justiz übergibt im Jahr 1942 alle Sicherungsverwahrten an die SS. Sie sollen laut Himmler-Thierack-Abkommen in Konzentrationslagern sterben.
Am 18. September 1942 weisen Reichsjustizminister Otto Georg Thierack (1889–1946) und Reichsführer-SS Heinrich Himmler (1900–1945) die Justizbehörden an, »asoziale Elemente« direkt und ohne Verfahren zur »Vernichtung durch Arbeit« in Konzentrationslager zu überstellen. Das Abkommen betrifft unter anderen Sicherungsverwahrte, Jüdinnen und Juden sowie Sinti und Roma. Die vorsätzliche Tötung durch schwere Zwangsarbeit wird in dem Abkommen klar formuliert.
Kurz nach ihrer Machtübernahme 1933 führen die Nationalsozialisten die »Vorbeugungshaft« als Instrument der »Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« ein. Die Kriminalpolizei wird damit ermächtigt, mehrfach vorbestrafte Personen erneut festzunehmen und auf unbestimmte Zeit in Konzentrationslager zu überstellen. Mit einem Erlass vom Dezember 1937 geraten auch Personen ins Visier, denen »verbrecherische« oder »asoziale« Neigungen unterstellt wurden. Richterliche Überprüfungen gibt es nicht.
Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrationslagern inhaftiert.
Die Nationalsozialisten schaffen die »Geheime Staatspolizei« zur Bekämpfung politischer Gegner/-innen. Auch an der Verfolgung von Minderheiten ist sie maßgeblich beteiligt. Ohne richterliche Prüfung können Beamte Wohnungen durchsuchen, Personen inhaftieren, in Konzentrationslager bringen oder ermorden. Sie erzwingen in Verhören Geständnisse unter Folter. In den besetzten Gebieten sind Gestapobeamte an Massenerschießungen und anderen Verbrechen beteiligt.