Lottchen in Shanghai

Im Rahmen unserer Recherchen besuchen wir zahlreiche Archive in Deutschland und in anderen europäischen Ländern. Meist stoßen wir dort auf dicke Akten, vergilbtes Papier, viel Text. Nur selten finden wir Fotos.

Im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald sind wir daher sehr überrascht, als uns ein Stapel Fotografien erwartet. Regelmäßig erkennen wir einen Hund wieder. Eher klein, ein zotteliges Fell und spitze Öhrchen – vielleicht ein Terrier? Wir sehen den Hund in verschiedenen Posen: Am Klavier, auf dem Schoß, auf einem Schiff oder mit Zigarette in der Schnauze. Sein Name ist Lottchen.

Lottchen gehört Martin Hamburger. Er ist Journalist, Chefredakteur der Berliner Illustrierten. Im Oktober 1933 verliert er seine Stelle. Als Jude und Sozialdemokrat ist er vom sogenannten Schriftleitergesetz betroffen, das nun zur Berufsausübung einen »Ariernachweis« erfordert. Hunderte Journalistinnen und Journalisten, darunter auch politische Gegner/-innen der Nationalsozialisten, werden infolge des Gesetzes arbeitslos.

Mitte Juni 1938 gehört Martin Hamburger zu den 1.000 Juden, die in Berlin festgenommen werden. Im Rahmen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« werden reichsweit mehr als 10.000 Männer verhaftet. Es sind Männer im arbeitsfähigen Alter, die arbeitslos sind, als nicht arbeitswillig gelten oder (wegen meist kleiner Delikte) vorbestraft sind. Ein Viertel der Verhafteten ist jüdisch. Die Nationalsozialisten diffamieren sie als »arbeitsscheu«.

Aus der Haftakte des Konzentrationslagers Buchenwald. Die Abkürzung ASR steht für »Aktion Arbeitsscheu Reich«. Das Datum der Entlassung, der 27. August 1938, ist darauf auch vermerkt. Quelle: Arolsen Archives, Dok.6058116

Martin Hamburger wird in das Konzentrationslager Buchenwald transportiert, wo der 62-jährige unter unzureichender Versorgung zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen wird. Ende August 1938 kommt er frei und verlässt Berlin. Er emigriert nach Shanghai, zu diesem Zeitpunkt ein Ort, an dem Jüdinnen und Juden noch legal gelangen können, um Zuflucht zu finden. Martin Hamburger ist bei seiner wochenlangen Überfahrt nach China nicht alleine, seine Frau Elsbeth begleitet ihn und auch Lottchen, der Hund.

Fotografie Schiff Überfahrt Shanghai, Foto: Archiv der Gedenkstätte Buchenwald

1945 verstirbt Martin Hamburgers Ehefrau in Shanghai. Er bleibt noch zwei weitere Jahre dort und kehrt 1947 gemeinsam mit Lottchen nach Berlin zurück. Lottchen wird 15 Jahre alt und erhält nach ihrem Ableben 1951 ein richtiges Begräbnis und einen Nachruf – ungewöhnlich für diese Zeit. Martin Hamburger nimmt seine journalistische Tätigkeit erneut auf und arbeitet bis zu seinem Lebensende 1962.

1951, Beerdigung von Lottchen, Foto: Archiv der Gedenkstätte Buchenwald

Der Fund von Lottchens Fotografien im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald hat uns überrascht und berührt. Es ist bekannt, dass Haustiere eine stabilisierende Rolle im Leben »ihrer Menschen« haben – vermutlich noch stärker in Extremsituationen. Die Fotografien geben einen sehr privaten Einblick in Martin Hamburgers Geschichte von Verfolgung, Flucht und Überleben.

Sein Beispiel zeigt auch, dass die Nationalsozialisten die Kategorien »arbeitsscheu« und »asozial« auch für ihre antisemitische Politik nutzen, und es sich bei den Personen, die unter diesen Kategorien verfolgt wurden um keine geschlossenen Gruppen handelt, sondern um tausende einzelne Geschichten.  

Menschen werden als »asozial« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Der Begriff wurde von Behörden bereits vor 1933 verwendet. Die Nationalsozialisten verunglimpfen damit Arbeitslose, denen sie vorwerfen, sich keine Arbeit suchen zu wollen. Diese Personen erhalten keine staatliche Hilfe – stattdessen zwingt die Fürsorge sie zu schwerer Arbeit und sperrt die Polizei sie vielfach in Konzentrationslagern ein. Allein 1938 verhaftet sie mehr als 10.000 Personen. »Arbeitsscheue« gilt den Nationalsozialisten als erblich und als Gefahr für die »Volksgemeinschaft«.