Das bundesweite Gedenkstättenseminar in Hamburg

Zum mittlerweile 67. Mal findet im Juni 2023 das bundesweite Gedenkstättenseminar statt. Für vier Tage kommen auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung, des Gedenkstättenseminars der Topografie des Terrors und der Stiftung Hamburger Gedenkstätten mehr als hundert Menschen zusammen, die in NS-Gedenkstätten und Museen arbeiten oder sich ehrenamtlich engagieren. Die Veranstaltung findet auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Südosten Hamburgs statt.

Das Thema des diesjährigen Gedenkstättenseminars sind die Perspektiven von Nachkommen in der Gedenkstättenarbeit. Allein hier zeigt sich bereits die Besonderheit unseres Projektes: Denn während andere über die Einbindung von Angehörigen, deren öffentliches Auftreten und Erinnerungsrituale berichten, blicken wir auf Verfolgte und ihre Angehörigen, die über Jahrzehnte mit Scham, Schweigen und gesellschaftlicher Stigmatisierung konfrontiert waren und sind. Die Kontinuitäten der Ausgrenzung und der Verleugnung stellen uns vor andere Fragen als viele unserer Kolleg/-innen.

Alle Teilnehmenden des Seminars sind sich darüber einig, dass die Arbeit mit Angehörigen eine zentrale und wichtige Aufgabe der Gedenkstätten ist und bleiben wird. Für unser Projekt gilt das in einem besonders starken Maße: Andere Dokumente oder Aussagen über die Verfolgten als die der Täter/-innen können wir fast ausschließlich über die Angehörigen erhalten. Private Fotos, Briefe oder andere Selbstzeugnisse sowie Familienerzählungen über sie bilden einen wichtigen Fundus, um an sie fern der Fremdzuschreibungen erinnern zu können.

Projektvorstellung auf dem Gedenkstättenseminar 2023 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Projektvorstellung auf dem »Markt der Möglichkeiten« während des Gedenkstättenseminars 2023 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Foto: Stiftung Denkmal

Neben einem vielfältigen Programm aus Rundgängen, Podiumsdiskussionen und Vorträgen erhalten wir beim »Markt der Möglichkeiten« die Gelegenheit, unser eigenes Ausstellungs- und Webseitenprojekt vorzustellen. Neben vierzehn weiteren Projekten legen wir zahlreiche Informationsmaterialien an unserem Stand aus, zeigen Interviews von der Webseite und kommen mit den Teilnehmenden des Seminars ins Gespräch. Das Interesse an Ausstellung und Webseite ist groß. Die Dimension der Verbrechen an den als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgten Menschen sowie die Kontinuitäten in den beiden deutschen Nachfolgestaaten sind vielen noch nicht klar. Umso gespannter erwarten viele unsere Wanderausstellung.

Während der vier Tage rücken Themen in den Vordergrund, die wir im Projekt seit Monaten intensiv und kontrovers diskutieren: Wie kann ein angemessener Umgang mit Täter/-innendokumenten aussehen? Wie gehen wir mit nationalsozialistischen Fremdbezeichnungen um? Wie können wir Lebensgeschichten ohne explizite Zustimmung von Angehörigen erzählen?

Merle Stöver

Abkürzung für Konzentrations­lager

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Als »Berufs­verbrecher« werden seit den 1920er Jahren Personen bezeichnet, die Straftaten begehen, um daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits im November 1933 gehen die Nationalsozialisten entschieden mit einer vorbeugenden Polizeihaft gegen diese Personengruppe vor. Als »Berufs­verbrecher« gilt, wer in fünf Jahren drei Mal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde. Die Kriminalpolizei kann damit Betroffene ohne Verdacht in »Vorbeugungshaft« nehmen.

Menschen werden als »A­soziale« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.